1. Der Fremde

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„Hallo, du da, in der gelben Bluse. Bleib stehen und dreh dich zu mir um!"

Die Stimme ist nicht laut, nur etwas herrisch, und doch ich fühle mich sofort angesprochen. Kein Wunder, denn ich weiß, er meint mich - wer sonst trägt eine Bluse in einer solch auffälligen Farbe? Ein paar Schritte entfernt sitzt ein Mann im Straßencafé, elegantes Outfit, etwa Mitte Vierzig, herablassender Blick. Müßig scheint er die Passanten beobachtet zu haben, jedoch hat er aufgemerkt und sein Interesse nun allein auf mich gerichtet. Unwillkürlich fühle ich mich von seinem intensiven Blick gescannt, wie ausgezogen, auf den Prüfstand geschickt und für lohnenswert befunden.

„Komm näher", es ist wie ein Sog, und ich trete an seinen Tisch heran. Mein Mann und meine Tochter, die an meiner Seite auf dem Fußweg genauso überrascht wie ich unwillkürlich mit mir stehengeblieben sind, schauen mir hinterher, als ich die paar Schritte auf ihn zu gehe. Der Mann steht abrupt auf der anderen Seite seines Tisches auf, so dass sein Stuhl nach hinten wegkippt, doch seine Aufmerksamkeit scheint derart von mir eingenommen, dass er es überhaupt nicht registriert. Er starrt mich völlig fasziniert an und ich starre zurück. Es verstreichen ein paar Sekunden, dann ruft er begeistert aus: „Du gefällst mir! Ja, das tust du."

Ich bin irritiert. Wieso in aller Welt interessiert sich ein solcher Kerl für eine Frau wie mich? Was sieht er in mir? Er selbst strahlt eine unübertroffene Arroganz aus, ein Herrscher, ein Napoleon. In seinem in gedecktem Purpur gehaltenen Anzug, Weste und perfekt darauf abgestimmter Krawatte erscheint er mit seinen schwarzen Haaren attraktiv und selbstbewusst. Trotzdem ist er gerade in diesem Moment wie aufgelöst, schaut mir enthusiastisch entgegen, wie ein kleines Kind, und doch kann er seine Nervosität nicht gänzlich verbergen. Warum diese für einen solchen Kerl atypische Unsicherheit? Doch nicht, weil ich eine Frau bin? Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen.

„Wie heißt du?" Er scheint von Haus aus ein Mann mit Manieren zu sein, also wieso benutzt er das viel zu intime 'Du', als würden wir uns kennen?

„Ich bin Mona", höre ich mich antworten, noch bevor ich meine Gedanken sortiert habe.

„Mona...", echot er, dann zeigt er mir ein strahlendes Lächeln. „Mein Name ist Zebediah Kilgrave."

Jäh wendet er sich meiner übrigen Familie zu, mit seiner Hand winkt er sie lässig weg. „Ihr Anderen, geht nach Hause... Husch!", und zu meiner unendlichen Verblüffung setzen sich mein Mann und mein Kind ohne irgendwelche Proteste in Bewegung und gehen ohne ein Wort weiter, als sei ich eine Fremde für sie. Ich starre ihnen kurz hinterher, dann drehe ich mich perplex zu Kilgrave zurück.

„Wie machen Sie das?", frage ich meinerseits bestürzt. Er kommt näher, bis er dicht vor mir steht.

„Nenn mich ruhig Zeb, wenn du magst", haucht er mir ins Gesicht, lächelt mich dabei aufmunternd an. Ich fühle mich auf eine seltsame Art und Weise von ihm eingenommen und lächle unwillkürlich zurück, habe die bloße Existenz meiner Lieben in jenem Moment schon vergessen.

Kilgrave fährt fort. „Wie ich das mache? Gar nicht. Ich sage, was getan werden soll und die Leute tun es einfach." Seine Miene wird kurzzeitig undurchdringlich und er zuckt mit den Schultern, als sei das normal. Dann legt sich ein Ausdruck von Zartheit über sein Gesicht und er lächelt mich wieder glücklich an.

„Hast du Hunger, Mona? Falls ja, könnten wir irgendwo etwas essen. Was hältst du davon?" Ich nicke eifrig, denn schlagartig verspüre ich immensen Appetit, und folge ihm ohne nachzudenken, als er mit einer auffordernden Geste die Richtung vorgibt.

Galant bietet er mir seinen Arm, den ich ohne auch nur zu zögern ergreife, dann spazieren wir die Straße entlang, wie ein Pärchen. Ich bemerke die gefälligen Seitenblicke aus seinen braunen Augen und mein Herz schlägt plötzlich wie bei einem Teenager.

„Du magst-", er räuspert sich und fängt noch einmal an, diesmal in Form einer Frage, „...was hältst du von italienischem Essen – wäre das okay für dich?"

„Aber sicher doch. Ich liebe Pasta!" Ich strahle meinen fremden Begleiter an; eine Euphorie hat von mir Besitz ergriffen, die ich kaum erklären kann. Doch vielleicht liegt es ja auch an jenem einnehmenden Wesen dieses Mannes - ein Charisma, das seinesgleichen sucht. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper und ich bemerke, wie meine Brustwarzen sich stark verhärten und die aufgestellten Knospen noch unter dem BH unangenehm am Stoff meiner Bluse reiben.

Scheinbar habe ich ziemlich auffällig an mir selbst herab gestarrt, denn Zebediahs Blick geht sofort in die gleiche Richtung, seine linke Augenbraue hebt sich amüsiert und dann schaut er mir schalkhaft ins Gesicht.

„Ist dir etwa kalt?", seine Mundwinkel zucken, als ich rasch den Kopf schüttle und ohne Unterbrechung weitergehe, bevor er noch die verlegene Röte bemerken kann, die mir ins Gesicht schießt.

Wir erreichen das Restaurant 'Da Luigi' nur einen Block entfernt, ein nobler Laden, keine billige Pizzeria, wie man bereits am Türsteher erkennt. Ganz der Gentleman, lässt mir Kilgrave den Vortritt, schließt jedoch sofort wieder zu mir auf. Noch bevor die Empfangsdame etwas sagen kann, räuspert sich Kilgrave dezent.

„Wir bekommen den besten Tisch in diesem Laden und werden zuvorkommend bedient."

Der freundliche Gesichtsausdruck der jungen Frau erstarrt jäh zu einer Maske. „Herzlich willkommen, meine Dame, mein Herr. Wir hoffen, Sie haben bei uns einen angenehmen Abend. Selbstverständlich wird Tisch 17 für Sie freigehalten." Sie winkt der Bedienung und ich vernehme hektische Aktivität im Hintergrund. Nur eine halbe Minute später setzt sie in professionellem Ton hinzu: „Wenn Sie mir bitte folgen wollen..."

Sie führt uns quer durch die stilvoll eingerichtete Räumlichkeit in leicht abgedunkeltem Ambiente zu einem Seitentisch, der frisch eingedeckt scheint. Kilgrave schiebt mir den Stuhl zurecht, als ich mich setze, und nimmt anschließend mir gegenüber Platz, dann sieht er sich angelegentlich um und rümpft skeptisch die Nase.

„Na ich hoffe mal, das Essen hält, was die Ausstattung verspricht."

Erwartungsvoll schaut er zu mir herüber. Ich hingegen nicke nur abwesend, denn noch immer bin ich schier erstaunt darüber, dass es funktioniert. Dieser Mensch sagt etwas und alle gehorchen. Und ganz plötzlich wird er mir unheimlich.

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