6. Hoch gepokert

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Natürlich verstehe ich nicht, was er meint, doch er legt das Messer zur Seite und ich atme auf. Was hat er vor? Es kann nichts gutes bedeuten... Zebediah lässt von mir ab und knöpft sein eigenes Hemd auf, nachdem er sich der Krawatte und Weste entledigt hat. Seine Bewegungen sind dynamisch, er scheint sich auf das Kommende zu freuen. Dann schaut er an mir herab und runzelt die Stirn, als der Blick an meinem Rock hängenbleibt.

„Möchtest du angezogen bleiben?", die Frage ist rein rhetorisch und ich ziehe sofort den Rock herunter. Für einen Moment lässt er seinen Blick gefällig über meinen Körper schweifen, dann zieht er selbst seine Hose aus und nimmt mich mit sich auf das Bett.

Das schreckliche Küchenmesser hat er wieder zur Hand genommen; es macht mir Todesangst und ich zittere.

„Setz dich auf, so geht es am besten", Zebediah kniet sich auf dem Bett dicht vor mich hin, das Messer mit beiden Händen gefasst. Voll kalter Furcht beobachte ich jede seiner Regungen, denn ich ahne noch immer nicht, was jetzt folgen soll. Auch er kommt mir ziemlich aufgeregt vor. Ich bemerke den Schweißfilm, der seine nackte Haut überzieht und sein Puls scheint stark erhöht.

Er fasst nach meinen beiden Händen und schiebt mir den Griff des Messers hinein, legt seine eigenen darüber.

„Was-", ich bin bestürzt, sehe wie er mich führt, die Klinge gleitet langsam in meinen Händen über seinen Oberkörper.

„Das Spiel...", er flüstert nur, „jetzt bin ich in deinen Händen... dir auf Leben und Tod ausgeliefert." Er schließt seine Augen und sammelt sich, nimmt dann seine Hände herunter, legt die Arme zur Seite und bietet sich mir dar, wie eine Märtyrergestalt. Langsam lasse ich die Klinge über die Mitte seiner Brust entlanggleiten, bis zum Brustbein und er zischt auf, seine Lippen zittern leicht.

Es muss für diesen Menschen ein Gefühl sondergleichen sein, die Kontrolle abzugeben, ohne Rückversicherung. Doch was, wenn ich ihn tatsächlich verletze? Wenn ich mit dem Messer abrutsche und ihm dabei wehtue? Würde er sich rächen?

Und ich spüre etwas. Ein Machtgefühl, das von mir Besitz ergreift, sinnlich lasterhaft wie ein Rausch. Die Klinge gleitet weiter, wieder hinauf. Die Augen wieder geöffnet, sieht er mich an. Beobachtet mich, schaut mir dabei direkt in die Augen, als ich hochsehe. Ich bin an seinem filigranen, ungeschützten Hals angekommen, das Messer stoppt an seiner Kehle. Ich bemerke genau, dass Zebediah es nicht wagt zu atmen und ich zögere. Die Klinge liegt hart an seinem Kehlkopf an – wenn ich jetzt zusteche, ist sein Leben vorbei.

Diese Vorstellung betäubt mich, lässt mich total erstarren, während wir uns anschauen, und meine Hände verstärken ihren Druck. Der Augenblick zieht sich in die Länge und sein Blick selbstgefälliger Coolness wandelt sich, verrät plötzlich Unsicherheit, flackert nervös zu meinen Händen.

Die Verlockung ist da. Wie hatte ich ihn bezeichnet: als Monster? Kann ich mit einem Handstreich verhindern, dass er anderen Leid zufügt? Zitternd verharre ich in der Position und er bemerkt es. Kilgraves Körper durchläuft ein leichtes Zucken und die Augen hat er weit aufgerissen. Weiß nicht mehr, ob er zu hoch gepokert hat. Und traut sich nicht, auch nur eine Silbe herauszubringen, dafür kann er den Druck der Klinge zu deutlich spüren.

Für mich ist es ein Gefühl sondergleichen, jene Macht, die ich mit einem Male über ihn besitze. Das Rauschen wird stärker, durchdringt meine Adern, als wenn mein Blut kocht.

Soll ich einfach zustechen? Soll ich?

SOLL ICH?

...doch ich wäre selbst das Monster, würde ich ihn jetzt umbringen. Um Gottes Willen, ich habe noch nie darüber ernsthaft nachgedacht, jemanden töten zu wollen und fange damit bestimmt auch nicht an!

Angewidert werfe ich das Messer von mir und Zebediah keucht erleichtert auf. Sein stechender Blick wendet sich nicht von mir ab, während sein Brustkorb heftig auf und ab geht. In maßlosem Entsetzen erkenne ich meinen Fehler. Denn nun ist er wieder am Zug und mich packt die abgrundtiefe Angst, dass er mir etwas antut – etwas Schreckliches mit mir passieren wird.

Sein Lachen schallt mir plötzlich entgegen. Aber kein hämisches Lachen – nein, er ist erleichtert und amüsiert.

„Spürst du es", fragt er heiser, „spürst du das Adrenalin?" Ich nicke unwillkürlich, die Panik und Angst vor ihm fällt schlagartig von mir ab.

Dann versinke ich in seinem Blick. Seine Lippen pressen sich wild auf die meinen, wie die Tiere fallen wir übereinander her. Der Sex ist voller Leidenschaft und Lust, ein Fest unserer Sinne, ohne zu denken. Der Höhepunkt lässt Zebediah laut aufstöhnen, dann sinkt er auf mich herab. Erst sein befriedigtes Schnauben bringt mich in die Wirklichkeit zurück, als er nach Luft schnappt, dicht vor meinen Augen, und ein beglücktes Gesicht macht. Kurz darauf rollt er sich von mir herunter und bleibt so liegen.

Ich starre an die Decke und kann es nicht fassen. Ohne noch überhaupt ein Wort zu sagen, ist Kilgrave dicht neben mir fest eingeschlafen.

Lange Zeit horche ich gespannt, erwarte, dass er sich doch wieder rührt, doch ich höre nur seinen gleichmäßigen Atem. Ob die Erschöpfung nach dem Sex ihn eingeholt hat und er unvorsichtig geworden ist? Immerhin ist er ein männliches Subjekt und jenem Naturgesetz genauso unterworfen wie alle anderen auch, Gedankenkontrolle hin oder her.

Er bleibt ruhig, dass ich zu der Erkenntnis komme: Jetzt oder nie! Leise richte ich mich auf, suche meine Kleidung zusammen und ziehe mich möglichst lautlos an. Als ich nach meiner Handtasche greife, fällt der Schlüssel von der Kommode und landet klirrend auf dem Fußboden, was Kilgrave aufschreckt.

Noch im Aufwachen murmelt er einen Namen.

„Jessica! Komm zurück!"

Ich zögere für einen Moment. Wie bitte? Wer ist Jessica? Aber wen auch immer er da meint, ich muss hier raus.

„Komm sofort zurück, sagte ich! ...Jessica! Sofort!", seine Stimme hallt hinter mir durch den Flur und ich beschleunige meine Schritte, der Fahrstuhl wartet. Der Schock der Erkenntnis trifft mich erst, als die Türen sich schließen und der Fahrstuhl anfährt. Ich bin einfach weitergegangen.

Heißt das, er hat im Grunde niemals Kontrolle über mich gehabt? Für ein paar Sekunden bin ich verwirrt - wie kann das angehen? Er hat mich doch die ganze Zeit über in seinem Griff gehabt, hat mich gezwungen, mit ihm zu kommen und später dann, mich ihm hinzugeben.

Oder etwa nicht?

Okay, mir war klar, dass er irgendwie versucht hat, mir möglichst keine Kommandos zu geben und mir „die Wahl" zu lassen, doch trotzdem habe ich doch eigentlich nur getan, was er wollte. Nein, letztendlich bin ich aus dieser Hölle entkommen. Ich nicke mir innerlich bestätigend zu. Es muss einfach so sein, denn wenn nicht, werde ich mir niemals mehr selbst in die Augen blicken können. Ich muss diesen Zweifel verdrängen, um mich zu schützen...

Wie sehr es auch der Horror gewesen ist - es ist nun vorbei und ich bin ihm entkommen! ...ihm entkommen... und er hat mich nicht freigegeben – bin ihm entkommen... warum nur beschäftigt mich dieser Gedanke?

Egal, ich habe es geschafft. Tief erleichtert seufze ich auf, während meine Finger am Verschluss der Handtasche nesteln. Stirnrunzelnd schaue ich nieder und beobachte mich selbst dabei, wie ich eine Waffe daraus hervorziehe, sehe mit abwesendem Erstaunen, wie meine Hand dabei zittert, als ich sie hebe und mir ihren Lauf an die Schläfe presse.

Die Erinnerung durchspült schlagartig mein Bewusstsein, an seine Worte, als er sie mir in die Hand drückte. „Nur für den Fall", wie er im Font des Wagens süßlich in mein Ohr gesäuselt hatte. Wie konnte ich das nur vergessen haben? Mit fassungslosem Ausdruck auf den Lippen blicke ich geradeaus und drücke ab.


E N D E


Marvel's Jessica Jones: He made me do itWo Geschichten leben. Entdecke jetzt