Der Werdegang eines Stalkers

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Die Seite mit dem Lied war immer noch offen, das unter-drückte Stechen, das sich seit gestern Abend in meinem Ma-gen eingestellt hatte, ließ sich wieder vernehmen. Dieses Lied würde nicht mehr so schnell aus meinem Leben verschwinden, das wusste ich jetzt. Aus dieser Nummer kam ich nicht so einfach raus.

Völlig mit den Nerven am Ende, tat ich das einzig Vernünftige, was man tun kann, wenn man mental zerstört wird, ich googelte aufs Geratewohl meinen guten Freund Logan Rider.

Der virtuelle Ansturm war nahezu unfassbar, er hatte es wirk-lich geschafft, einer der ganz Großen zu werden. Verschiedene Gefühle mischten sich wie ein hochprozentiger Cocktail in mir und tanzten zwischen meinen Rippen Tango. Lily, dieses Lied schwirrte mir unerbittlich im Kopf herum.

Stolz, Schuld, Bedauern und dann noch die irrationalen Seiten wie Sehnsucht und Reue, die mich eindeutig als famegeil outeten, was mich ungemein ärgerte.

Wenn es etwas gab, worauf ich mir etwas einbilden konnte, dann darauf, dass ich schonungslos ehrlich war und ganz sicher niemanden jemals etwas vorheucheln würde.

Ganz sicher würde ich nicht wegen eines Typen, mit dem ich schon vor zwei Jahren restlos abgeschlossen hatte, von meinen Prinzipien abweichen.

Dann tat ich etwas, das ich wohl für immer bereuen würde, ich hörte mir das Lied ein zweites Mal an.

Immer und immer wieder, ich landete in einer Spirale aus der ich nicht mehr ausbrechen konnte. Die Rhythmik, das Tempo, seine Stimme, alles prägte sich unwiderruflich in mir ein. Ich beschäftigte mich so sehr damit, dass ich das Gefühl hatte, es würde mich komplett ausfüllen. Hilflos hörte ich zu, hatte das Gesicht in den Händen vergraben, ließ die Erinne-rungen wie Teile eines alten Wracks in mir hochkommen und wieder versinken.

Nach einer Weile schaute ich sogar die Lyrics im Internet nach, auch wenn ich mir sicher war, dass ich alles verstanden hatte.

Dinge, die mich nie richtig interessiert hatten fühlten sich auf einmal so schlimm an, jedes seiner Worte war wie ein kleiner Stich, harmlos, sollte man meinen. Doch die schiere Anzahl an Stichen brachte mich beinahe zum krepieren. Viel-leicht hatte Fräulein sensationslüstern gar nicht so unrecht. Womöglich wäre es besser, kurz mit ihm zu sprechen, nur um mich zu versichern, dass dieses Lied über mich rein auf kommerzieller Basis begründet war und genaugenommen auch nichts mit mir zutun hatte.

Ganz der Depp vom Dienst abonnierte ich also seinen YouTube Channel und vorsichtshalber noch drei Fanpages und begann mit meinem Stalkinggang durch das weltweite Web.

Er hatte mehrmals Interviews in einer englischen Talkshow gegeben, allerdings nur über frühere Songs, die entstanden waren, bevor der Hype richtig ausbrach.

Ein wenig erschreckt war ich schon, wie vertraut er mir vorkam. An und für sich war er das Paradebeispiel für diese Art von Sänger, sympathisches Lächeln, dunkles Haar und Gitarre über der Schulter, ach ja und die lässigen Lederjacken nicht zu vergessen.

Wenn ich meinen Arsch da rausretten wollte, dann musste ich das aber auch richtig machen. Die Hunde waren losgelas-sen und die Recherche konnte beginnen, na schönen Dank auch.

Am Ende war ich wirklich stolz auf mich, nicht nur, dass ich mir achtzehn endlos lange Artikel von diversen Quellen reinzog, ich ließ zusätzlich noch zweieinhalb quälend lange Stunden Talkshow über mich ergehen.

Zugegeben, ich musste wirklich ein lustiges Bild geboten haben wie ich mit halb geöffneten Augen, einen Stift zwi-schen den Zähnen und das Gesicht auf den Handflächen abgestützt, vor meinem Computer saß.

Meine Eltern waren nicht Zuhause, was mich nicht störte und sie vermutlich auch nicht, es gab wirklich schönere Dinge, als einen missmutigen Teenager.

An einer Stelle musste ich das Video zurückspulen. Er, alias Logan Rider, saß in der standardmäßigen Lederjacke auf dem roten Drehstuhl dem Talkmaster gegenüber. Er lächelte und lachte, fuhr sich sogar manchmal durch die Haare, wobei jedes Mal mindestens zehn Fangirls im Publikum Schreikrämpfe bekamen.

„Logan Rider", sagte der Talkmaster, nachdem sich alle wieder halbwegs beruhigt hatten. Mein guter, alter Freund schaute auf und lächelte. Unwillkürlich verglich im Kopf sein Lächeln von damals mit dem Lächeln, das er in diesem Au-genblick zeigte. Auch wenn seine Zähne weißer, sein Gesicht erwachsener war und die Narbe auf seiner Nase in HD aufge-nommen wurde, es war immer noch dieses eine Lächeln, das ich so selten an ihm gesehen hatte. Heutzutage schien er mit seiner Gesichtsmuskulatur verschwenderischer umzugehen. Kein Wunder, ich schnaufte und schob mir einen der übrig gebliebenen Kartoffelchips in den Mund, Ruhm verdirbt den Charakter.

„So when did you actually started with writing songs?", fuhr der Talkmaster fort und zeigte seinerseits ein zähneb-leckendes Lächeln. Die Fältchen in seinen Augen gruben sich tiefer und er verschränkte die Hände im Schoß.

„Well", Logan Rider, der Superstar, lehnte sich noch weiter in dem Stuhl zurück. „I've always written texts and played guitar since I was seven. But my first real song I created with eighteen, yeah, I think it was eighteen, two years ago."

Nachdenklich ließ er den Blick umherschweifen, nur damit auch jeder mitbekam wie gigantisch lang seine wunderbaren, prachtvollen Wimpern waren. Mein Blick dagegen brannte sich auf den Bildschirm, versuchte die Welt in dieser Sekunde festzunageln. Prompt änderte sich die Kameraperspektive und der strahlende Moderator in seinem silber schimmernden Anzug drängte sich erneut ins Bild.

„What was the reason?"

„Nothing special, just the typical things, you know? Being an adult, parties, girls and some drugs." Mit der Hand deutete er eine wegwerfende Bewegung an, wohl um zu sagen, dass auch er die Stufen der Dämlichkeit durchlaufen hatte.

„Girls, hm." Ja, immer diese girls, das, was alle interessierte, wie viele hatte er schon durch? Im Publikum wurde es still und im Hintergrund konnte ich erkennen, wie sich einige, relativ frei bekleidete Mädchen auf ihren Stühlen vorbeugten. Anscheinend hatte er nicht nur dreizehnjährige Fans, sondern auch solche, die sich als ernsthafte Heirats-kandidatin ansahen.

„Were there any special girls for you?" Die Kamera zoomte herein, fixierte das Gesicht des Superstars, der auf einmal zu Boden schaute und sich auf die Lippe biss.

„Yes, there was one, but this story is already over."


LilyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt