Wenn die Vergangenheit einen einholt, weil man zu langsam ist

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„Um ehrlich zu sein, war Lily das erste richtige Lied, das ich jemals geschrieben habe. Der Grund, warum der Song erst jetzt veröffentlicht wurde, ist schlicht und einfach, dass es mich vorher zu sehr verletzt hätte."

„Und jetzt verletzt er Sie nicht mehr?"

„So kann man das nicht sagen, es gibt Wunden, die selbst die Zeit nicht heilen kann. Aber wie jeder von uns nur zu gut wissen dürfte, was einen nicht umbringt, macht mich stärker."

„Denken Sie viel über die Zeit damals nach, würden Sie etwas anders machen, wenn Sie die Chance dazu hätten?"

„Man sollte sich nie wünschen, die Vergangenheit verändern zu können, allein der Schmerz, den ich damals gespürt habe, hat mich dahin gebracht, wo ich jetzt bin. Das Einzige, was ich manchmal bereue ist, dass ein Mensch allein mir so wichtig war."

Shaun lachte. „Ich würde vorschlagen, dass du dir schon mal einen neuen Namen aussuchst, die bestialischen Fans wetzen bestimmt schon die Messer." Sie legte den Kopf in den Nacken, als wollte sie den Mond anheulen und blies dann kleine Wölkchen in die Luft, die sich kräuselnd und wirbelnd in den Himmel verflüchtigten. „Sehr witzig", grummelte ich.

Nach dem Interview löste sich die Party relativ schnell auf. Schweigsam ging jeder seines Weges. Die Blonde und Bambi hatten ihre Fahrräder vor der Haustür an den Zaun geschlossen und verschwanden nahezu synchron, leise tuschelnd und sich immer wieder verstohlen umblickend. Zumindest der Blonden würde ich zutrauen, dass sie zu einer Art Herd der Gerüchteküche mutierte.

Shaun und ich wollten laufen, Shaun zündete sich schon die dritte Zigarette am Stummel der zweiten an, die sie achtlos und noch schwach glimmend in das Blumenbeet neben dem Eingang warf.

Wir waren weit genug von der Innenstadt entfernt, dass es auf den Straßen relativ ruhig zuging und wir dennoch nicht wie zwei kriechende Schatten in dem dämmrigen Licht der Straßenlaternen wirkten. Auch wenn ich mich genauso fühlte. „Warum hast du so schlechte Laune?", wollte Shaun wissen. „Ich hätte den Drink nicht ablehnen sollen", knurrte ich. „Finde ich nicht", sagte sie und zündete dabei fast ihre Haare an. „Wer weiß, was du sonst noch alles getan hättest." Sie schüttelte gespielt entsetzt den Kopf.

„Bereust du denn irgendetwas?", fragte sie nach einer kurzen Pause und einem Schluck aus der Flasche, die sie aus ihrer Tasche hervorzog. „Nicht, dass ich wüsste", log ich. „Du lügst", sagte sie trocken. „Tu ich nicht", log ich erneut.

„Sieh es mal positiv." Freundschaftlich legte sie mir einen Arm um die Schultern. „Ohne dich wäre er niemals so berühmt geworden."

„Weißt du", erwiderte ich nun doch und konnte meine Wut nur spärlich unterdrücken, „es kotzt mich so an, dass alle darüber reden, dass alle über nichts anderes reden. Als ob er mein Leben wäre und das ist er nicht. Vielleicht habe ich damals einen Fehler gemacht, aber ich werde mich nicht an der Vergangenheit festklammern, nur um zu beweinen, was für ein hirnloser Idiot ich damals war." Ich weiß nicht, warum ich aufhörte zu reden, vielleicht weil mir in diesem Moment klar wurde, dass ich nicht die Wahrheit sagte, vielleicht auch einfach nur, weil mir die Luft ausging. Egal warum. Wenn ich gewusst hätte warum, dann hätte ich die Tatsachen drehen und wenden können wie ich wollte, solange bis sie sich selbst unterdrückten.


LilyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt