Note 03

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September

6:01 pm

Einer der großen Vorteile beim Skypen war es, dass die Kooperation mit der Facecam in der Regel unfreiwillig und un-vorteilhaft von Statten ging, sodass man am Ende die wohl scheußlichste Version seiner selbst vor sich hatte. Ja, ich habe Vorteil gesagt. Denn durch die Augenringe, den Krümel am Kinn und die glänzende Nase, ersparte ich mir jegliche Art von Erklärung, die meine Eltern sicher gefordert hätten, da ich nicht Überlaufend vor Begeisterung ihnen brandheiß von meinen „neuen Erfahrungen" berichtete.

„Ich bin sehr müde." Dieser Satz war in diesem Fall das höchste der Gefühle und wenn man die ganzen Nebensächlichkeiten beiseite ließ, war es wohl auch das Einzige, was es in diesem Moment zu sagen gab.

„Sollen wir uns später noch mal melden?" Bloß nicht. „Nein, kein Problem, ihr braucht nicht meinetwegen auf bleiben." Misstrauisch zog meine Mutter eine Augenbraue in die Höhe und stieß dabei versehentlich meinen Vater zur Seite, der sowieso nur mit halben Gesicht zu sehen war.

„Ach bitte, der Zeitunterschied ist nur eine Stunde! Du bist nicht in Australien!" Streng wandte sie sich der Kamera zu, die ihr Gesicht in einer Art U-Boot-Effekt zu einem riesigen Eierkopf verzerrte.

„Ehrlich? Warum bin ich dann in einer Klasse voller Kängurus gelandet?"

„Es reicht", ermahnte sie mich. Inzwischen war mein Vater ganz aus dem Bild verschwunden.

„Wir sollen dich von Paul grüßen", warf sie ein, als sie merkte, dass ich die Konversation nicht weiterführen würde. Beiläufig drapierte ich ein Buch vor meinem Gesicht, damit sie mein genervtes Augenrollen nicht bemerkte. So wie ich Paul kannte, hatte er vermutlich noch nicht mal bemerkt, dass ich weg war.

„Wo ist er?", fragte ich und gähnte.

„Er schläft die Woche über bei seiner Freundin." Sie sagte es ganz sachlich und emotionslos, so wie man einen Frosch auf-schneidet, wenn er noch zuckend auf dem Seziertisch liegt.

„Janine?", riet ich drauf los. Keine Ahnung, warum mich das sosehr interessierte. Obwohl, eigentlich hatte ich doch Ahnung. Jedenfalls, meine Mutter wurde immer so herrlich wütend, wenn man sie dezent darauf aufmerksam machte, dass sich mein Bruder wie ein herzloses Stück Scheiße durch die Weltgeschichte vögelte. Bestimmt würde sie ihn gleich danach anrufen, um ihm spontan die Leviten zu lesen.

„Soweit ich mich erinnere, hieß sie Mary." Ich grinste, ihr Tonfall gab mir recht.

„Soll ich ihn von dir grüßen?" Unwirsch wie die Frau aus der Sendung zur Partnervermittlung, trommelte sie mit ihren Fingerspitzen auf den Tisch.

„Klar." gönnerhaft lehnte ich mich zurück, verschränkte die Arme im Nacken. „Ach ja und vergiss Mary nicht."

„Mit was?"

„Na, mit grüßen."


LilyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt