Note 05

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September

8:10 pm

„Wie sieht's nun aus, kommst du mit?" Sie musterte mich durch den Spiegel und spitzte wie in einer besonderen Form der Generalprobe die signalroten Lippen. Wie ein Schild flimmerte die Farbe vor meinen Augen. Ihr Mund blinkte förmlich als wäre sie eines dieser giftigen Kriechtiere, die man hinter Glas im Zoo oder im Aquarium begaffen kann. Rot, gelb, grün, bis dir schwindlig wird und die unmissverständliche Botschaft, die sie alle gemeinsam haben: Fass mich bloß nicht an. Allerdings hatte ich bei Shaun das unmissverständliche Gefühl, dass sie mit ihrer Aufmachung genau das Gegenteil bezwecken wollte.

„Wo gehst du denn hin?", fragte ich angesichts ihres Aussehens völlig überflüssigerweise. In den Spiegel schauend hob sie ihr Top an und sprühte qualmend und hustend Deo unter ihre Arme. „Ich habe mich heute beim Sport mit einem der Typen unterhalten, er meinte er und seine Kumpels würden um die Zeit oft in dem Park hinter der Schule rumhängen."

„Du siehst aus, als würdest du zu einem Vorstellungsgespräch zu einem Nachtclub in Vegas gehen." Missbilligend verschränkte ich die Arme. Eigentlich ging es mich ja gar nichts an, es sollte mir vollkommen egal sein. Aber es war mir nicht egal, ich war eifersüchtig, dass sie so leichtfertig zwischen ihren Kontakten springen konnte und offenbar kein Problem damit hatte, wie ein hochinteressantes Forschungsobjekt behandelt zu werden. Denn wir waren im Grunde auch nichts anderes, als eine nette Abwechslung. Deutsche Mädchen, die Attraktion in jedem Zirkus. Schnell, sichert euch einen Platz, bevor alle Karten weg sind. Sie benahm sich oberflächlich, ich wäre niemals so primitiv. So legte ich mir alles zurecht wie es mir passte und wusste doch instinktiv, dass ich die ganze Zeit von den Tücken des Neides zerfressen wurde und im tiefsten Inneren nicht von dem Gefühl loskam, irgendetwas Entscheidendes zu verpassen.

„Also, kommst du jetzt mit?" Geschäftig wuselte sie zwischen den Sachen in ihrem Koffer, verteilte dabei Klamotten und Reisekaugummis auf dem Boden. Ich biss mir auf die Lippe. „Nicht heute", folgte meine nur halb überzeugte Antwort. „Vielleicht nächstes Mal."

„Wie du meinst."

Meine Finger zuckten, ein völlig irrationaler Impuls suchte mich heim und ich war wirklich kurz davor, meine Zweifel über Bord zu werfen, und einfach mitzukommen. Doch ich zögerte eine Sekunde zu lange. Shaun war weg.

„Wenn Caren fragt, ich bin zum Lernen bei einer Freundin!", war das Letzte, was ich von ihr hörte.

Caren war der Name unserer gemeinsamen Gastmutter und in meinen Augen war sie so etwas wie Tweety undercover. Nein, ehrlich, von dem strohblonden Wuschelkopf bis zu der Art wie sie mit den zierlichen Händchen wedelte, wenn sie sich freute, alles an ihr erinnerte an den kleinen, gelben Vogel. Auch wenn sie vermutlich um die dreißig war und in ihrer Freizeit zum Karate ging, machte das keinen Unterschied.

Und dann war da noch Steve, ihr siebenjähriger Sohn. Steve war wie wohl jeder Junge in seinem Alter von nichts mehr besessen als Fußball. Bei der Wahl der Gastgeschenke hatte meine Mutter unabsichtlich total ins Schwarze getroffen, in-dem sie eine schwarz weiß gefleckte Tasse für ihn im Geschenkladen gekauft hatte. Seitdem hing er mir buchstäblich am Rockzipfel und hatte mir innerhalb der zwei Tage, die ich jetzt schon hier war, schon sämtliche Regeln aller mir bekannten und unbekannten Fußball Video Games erklärt.

Ich hatte sie allesamt nicht verstanden und er freute sich, dass er immer wieder gegen mich gewann. Alle waren also glücklich, ich hatte Gesellschaft und er hatte jemanden, der freiwillig mit ihm spielen wollte.

Nun saß ich allein in diesem Zimmer. Shit. Wäre ich doch nur mit Shaun mitgegangen! Warum hatte ich abgelehnt? Stolz, nicht vorhandene Würde, mir fielen keine wirklich überzeugenden Gründe ein. Letztendlich war es doch reiner Selbstschutz, bevor ich unbewusst in die Rolle einer unnützen Begleitung gedrängt wurde oder wohlmöglich noch als Anstandsdame fungieren musste.

Shaun kam ganz gut alleine klar, das lag aber auch daran, dass es ihr einfacher fiel, alles, was sie runterziehen könnte, an sich abprallen zu lassen. In dieser Hinsicht hatte sie ein dickes Fell oder auch den buchstäblichen Regenmantel an, der Regenmantel, der in meinem Kleiderschrank fehlte. Da war ich wieder und gestand mir in einem Gericht vor mir selbst alles Mögliche ein, was schon längst nicht mehr relevant war.

Aber das war schon immer so gewesen, ich knabberte bis zum Erbrechen an meinen Fehlern und Versäumnissen, lebte in Gedanken ganze Szenarien durch. Dieses ganze Selbstmitleid war echt zum Kotzen.

Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, ging ich ins Wohnzimmer und setzte mich neben Steve auf das eingedrückte Paisleysofa. Aus der Küche drang schwach das Radio und Carens Stimme, die leise mitsang.

„Lily!", rief Steve und wedelte mit seiner kleinen Hand vor meinem Gesicht, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „You can take the second controller!" Er pausierte das Spiel. „Girls?", rief Caren. „Yeah", entgegnete ich ein wenig schuldbewusst. Da tauchte auch schon ihr kleiner Wuschelkopf im Türrahmen auf. „Is Shaun still in her room?", fragte sie mit großen Augen. Na super, musste sie so aussehen, als würde sie jeden Augenblick anfangen zu heulen und warum überhaupt war ich jetzt in dieser scheiß Position? Hatte sie denn die Tür nicht gehört?

„She is at a friend's house because she has to do some very complicated homework for tomorrow."

„But I've made dinner!"


LilyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt