Der Anfang ist das Ende - Kurzgeschichte

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"Veränderungen? So etwas gibt es nicht."
Der alte Mann, der dies gesagt hatte, war vor ein paar Minuten erst an dem Ort aufgetaucht, an dem er stand. Ein paar Sekunden später war er fort. Wie alle.
Ein neues Jahr.
3200.
Sie setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Hinauf. Als könnte sie den Himmel erreichen, wenn sie nur hoch genug käme. Allem am Boden entfliehen. Menschlichkeit kennenlernen. Etwas das vor langem verloren ging.
Während dieser Zeit.
470 Jahre.
Bilder tauchten erneut vor ihrem inneren Auge auf. Sie versuchte erfolglos die Erinnerungen zu verdrängen.
In dem Moment in dem er ihr den Rücken zukehrte und davonging hatte sie sein Gesicht bereits vergessen. Das beschützte sie davor Trauer zu empfinden. Die kleine, dunkle Gasse wirkte still und leer, als er auf die große, staubige Straße hinaustrat. Ein Schuss ertönte und leuchtendes, warmes Rot, welches manche Leute früher frösteln ließ, durchbrach das Grau. Die Kugel, die an einigen Stellen noch silbern blinkte, rollte vor ihre Füße. Noch einer. Wie viele waren jetzt wohl schon vor ihren Augen gegangen? Sie wusste es nicht. Das Zählen hatte sie aufgegeben.
So viele Opfer.
8 Milliarden.
Der Wind fuhr ihr durch die unordentlichen Haare. Sie blickte hinab. Wieso war sie noch nicht gezwungen worden zu gehen? Vielleicht sollte sie freiwillig gehen. So wie viele  andere in letzter Zeit. Was war daran eigentlich so schwer? Sie war doch ohnehin nie wertvoll. Eines von vielen Waisenkindern. Niemand hatte sich je für sie interessiert. Ihr Alter? Unbekannt. Ihr Name? Unbekannt. Keiner von ihnen wusste es. Nicht einmal diejenigen selbst. Auch für die Soldaten waren sie unwichtig. Vielleicht war das der Grund. Sie waren egal. Jemand ohne Identität ist keine Bedrohung. Langsam fuhr sie mit ihrer Hand über das rostige Geländer neben ihr. Die Landschaft unten war sandig, staubig und von Schutt und Geröll übersät. Durchsetzt von altem Rot und zerfetzter Kleidung. Überall strahlte Metall. Auch die Städte passten makellos in dieses Bild. Wolken aus Asche und Staub verdeckten den Himmel. In manchen Gebieten konnte man noch nicht einmal mehr richtig atmen. In weiter Ferne hörte sie ein dumpfes Grollen. Eine Explosion. Wann hören sie endlich auf? Eine Frage, die inzwischen niemand mehr aussprach. Sie hatte etwas anderem Platz gemacht. Können wir überhaupt einfach so aufhören? Während diese Frage erneut in ihrem Kopf nachhallte, setzte sie einen Schritt nach vorne.
In die Leere.
Sekunden.
Der Wind trieb ihr Tränen in die Augen und die Felswände ziehen an ihr vorbei. Ebenso das alte Gerüst des Funkturms, der am Rande der ausgetrockneten Schlucht steht. Sie hat keine Angst. Hatte sie nie. Klare Gewissheit, sowie Begreifen erfüllt sie. Zum ersten mal in ihrem leben öffnet das Mädchen ihren Mund und spricht:
"Nichts hat sich je verändert. Es wird sich auch nie etwas ändern."

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