1. Kapitel

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Nun ist es schon über 6 Monate her, seit die 10. Klasse begonnen hat und in weniger als 4 Monaten schreiben wir unsere Abschlussprüfungen. Wie jeden Tag zuvor auch, gehe ich in die Schule und lasse mich auf meinen Platz sinken. Wir haben jetzt Biologie, dann Chemie, Doppelstunde Deutsch und noch 2 Fichtelstunden, Englisch und Mathe mit der Hälfte meiner Klasse.
Danach kommt eine kurze Pause des stressigen Schullebens. Das Wochenende. Doch wie soll es anders sein? Auch das ist schon voll und ganz verplant. Samstag die Konfirmation meines Bruders und Sonntag beginnen auch schon wieder die Vorbereitungen für die Schule. Ich weiß ja nicht, wie es den anderen aus meiner Klasse geht, aber ich komme fast nie zum Lernen und auch meine Hausaufgaben mache ich immer in letzter Minute.
Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Unsere Biologielehrerin will mal wieder irgendwas von mir wissen und ich, dumme Kuh, habe nicht aufgepasst, um was es geht. Was zur Folge hat, dass ich rot anlaufe und alle um mich herum anfangen zu kichern und zu tuscheln.
"Hey, endlich weiß die auch mal nicht weiter" und "Sie weiß doch sonst immer alles besser und jetzt kann sie's selbst nicht", konnte ich hören. Hilfesuchend sehe ich mich um, doch niemand ist bereit mir zu helfen. Stattdessen ernte ich noch ein paar gönnerische Blicke. Langsam wird Frau Lang ungeduldig.
Also versuche ich mein Glück: "Entschuldigen Sie, ich habe gerade nicht aufgepasst. Könnten sie die Frage noch einmal wiederholen?"
Dazu setzte ich ein nettes entschuldigendes Lächeln auf, doch an Stelle einer Antwort bekam ich einen tadelnden Blick zugeworfen und sie ließ mich wieder in Ruhe. Auch gut so. Bio ist eh nicht so mein Fach. Bloß blöd, dass wir danach noch eine Stunde bei ihr haben und ich mir damit leider keine Pluspunkte für die mündliche Note gesammelt habe. Aber in Chemie kann ich dem Unterricht wenigstens folgen und komme ganz gut mit.
Die Stunden vergehen, und mein Schultag neigt sich langsam dem Ende. Wie erwartet haben wir in Deutsch einen Test geschrieben und in Mathe mal nicht nur Kinderkram gelöst, bis der Gong ertönte und wir eilig unsere Sachen zusammenpackten, um und auf den Heimweg zu machen. So etwas wie Nachmittagsunterricht gibt es hier nicht. Einer der wenigen Vorteile, die sich aus dem Umzug vor 1 Jahr und 11 Monaten ergeben haben. Meine Mitschüler aus der alten Schule waren eigentlich nicht nett zu mir, aber wie jeder der vorhergegangenen Umzüge hat auch dieser mich auf eine unbeschreibliche Weise zerstört. So ist das nämlich mit überregionalen Umzügen. Sie zerstören dich von innen heraus, machen deinen Charakter kaputt und lassen nur das kalte Herz dastehen, lassen dich nach außen herzlos wirken. Bloß keine Schwäche zeigen, den anderen vorhalten, wie schlau und erfahren du doch bist, damit sie Abstand zu dir halten. Bloß niemanden mehr an dich ran lassen, damit dir keiner mehr weh tun kann, damit der mögliche Verlust nicht schmerzhaft ist. Ich habe ja jetzt so langsam meine Erfahrung mit solchen Dingen wie Mobbing oder dem Verlust von guten, sogar besten Freunden. Jeder weitere Verlust macht mich noch weiter kaputt, lässt mein Vertrauen auf Menschen noch geringer werden.
Dadurch, dass ich meine Mitschüler nicht mehr an mich heran gelassen habe, bin ich aber auch zum Mobbingopfer geworden. Man hat gesehen, dass ich eingebildet bin und mich gleich so verurteilt. Keiner hat sich Gedanken darüber gemacht, wie ich außerhalb der Schule bin. Sich nie gefragt, ob es überhaupt möglich ist, dass ein Mädchen von 12 Jahren nicht lacht, keinen Spaß am Leben hat und nicht aufgeregt über manche Themen erzählt. Nein, sie haben eindeutig nur das emotionslose Wesen gesehen, dass ich vorgespielt habe. Typ Musterschülerin halt. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann kann ich es ihnen nicht einmal mehr verübeln. Nur mein größtes Problem besteht leider darin, dass ich dringend nochmal zurück muss. Zurück in das Kaff, wo wir gewohnt haben. Mit den Leuten dort reden und zwar am besten dann, wenn sie alle zusammen auf dem Pausenhof stehen. Also zurück in die Schule. Ich will ihnen beweisen, dass sie mir Unrecht getan haben. Rein theoretisch ist das gar kein Problem. Im Juli nach den Prüfungen mit dem Zug hinfahren, einen ordentlichen Abgang hinlegen und dann mit dem Zug über meine Tante zurückfahren, damit ich eine Ausrede für meine Eltern habe. Doch praktisch ist da ein ganz großes Problem: meine innerliche Hemmschwelle. Wie soll ich ihnen in die Augen blicken und sagen, warum ich damals so komisch war, wenn ich mich selbst nicht ganz verstehe? Wie soll ich sie fragen, warum sie mich als Opfer auserkoren haben? Ich habe so eine fürchterliche Angst davor. Wie immer ist es die Angst, die mich von manchen Dingen abhält. Ich habe Angst Freundschaften zu schließen. Ich habe Angst meine Gefühle auf irgend eine Weise offen zu zeigen, sei es auch nur ein Blick. Ich habe Angst mit Leuten mehr als Small-talk zu führen. Und durch all meine Ängste habe ich gelernt, diese zu überspielen. Ich habe gelernt zu lachen, obwohl ich traurig bin. Ich habe gelernt anderen stundenlang von meinem Leben zu erzählen, ohne wirklich wichtige Sachen zu erwähnen. Ich habe gelernt zu lügen, obwohl ich Lügen abgrundtief hasse. Ich habe gelernt meiner Fantasie im Alltag freien Lauf zu lassen, zu meinem Leben die aufregensten Erlebnisse hinzuzufügen, ohne dass sie es merken. Mein Leben mit Ereignissen geschmückt, die es niemals gab, und wenn doch, dann in einer ganz anderen Reihenfolge.

Mein größtes Ziel war es immer, keine Schwäche zu zeigen. Dabei habe ich nicht einmal gemerkt, dass genau das meine größte Schwäche ist.
Ich kenne keinen Menschen, zu dem ich immer voll und ganz offen und ehrlich war, dem ich immer alles erzählt habe und dem ich voll vertraue. Ich vertraue niemandem, habe keinen besten Freund oder Freundin und ich werde in 3 Wochen 16, bin noch ungeküsst und hatte noch nie einen Freund. Ich war auch noch nicht verliebt.

Hallo,
das ist mein erstes Buch, bzw. Kapitel. Das nächste kommt in den nächsten Tagen.

The Secret Of LiveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt