Erschrocken zuckte ich zusammen, starre auf den Wecker und atme erleichtert aus. Es ist erst halb 3 und somit Zeit für einen erneuten Einschlafversuch.
Nach einer Stunde des Hoffens auf Schlaf gebe ich es auf. Das wird jetzt wohl nichts mehr. Und so schnappe ich mir meine Decke, mache das Fenster auf und setze mich davor, um meinen Gedanken, die mich vom schlafen abhalten, nachzugehen.
Ein großes Thema ist meine Vergangenheit, mit der ich nun endlich abschließen mag. Ich möchte sie hinter mir lassen und weiß, dass dies nur durch ein klärendes Gespräch möglich ist. Ich muss reden. Mit Tätern. Mit Mittätern. Mit Freunden. Ich muss mir den ganzen Ballast von der Seele reden und weiß nicht wie. Fast 2 Jahre habe ich gewartet. Von denen kommt nichts. Keine Erklärung, nichts, jedenfalls nicht von selbst. Alles was ich einem von ihnen schreibe, weiß später jeder. Darauf habe ich keine Lust mehr. Nicht jetzt und auch nicht in Zukunft. Sie sollen mich nicht mehr klein kriegen. Sie sollen sehen, dass ich es zu etwas schaffe und deshalb habe ich mir einen noch nicht ganz ausgereiften Plan ausgedacht.Ich werde kurz nach den Abschlussprüfungen bei einem von ihnen auf Festnetznummer anrufen und mich als Anna Bauer von der Schülerzeitung meiner jetzigen Schule ausgeben. Auf der Homepage findet man eine kurze Information, dass es eine Schülerzeitung gibt, aber weder den Namen der Zeitung noch die Chefredakteurin. So könnte ich mich quasi unbesorgt als diese ausgeben und ungeniert alle möglichen Fragen über mich stellen. Ohne dass einer von ihnen Verdacht schöpft. Ich würde sagen, dass ich einen Artikel über unsere Schülersprecherin, also mich, veröffentlichen möchte. In dieser Ausgabe soll zudem noch ein Interview mit mir veröffentlicht werden und nun sollen in diesem Artikel den zur Folge nur geheime Informationen, also alles über meine Vergangenheit, beschrieben werden. So unter dem Motto "Was meine Wähler erst jetzt wissen dürfen". Wenn ich tatsächlich diesem Plan nachgehe, so kann ich die Leute alles fragen und mich selber dabei besser hinstellen. Das einzige Problem besteht darin, dass ich immer noch Sophie Rist bin und sich das nicht so leicht ändern lässt. Wenn ich mit dem Festnetz anrufe und die irgendwann nochmal zurückrufen, kann ich nicht garantieren, dass ich mit falschem Namen abnehme und sobald jemand anderes aus meiner Familie abnimmt, ist der Plan eh voll schief gelaufen.
Zudem habe ich keine Ahnung, wie viele von meinen gelogenen, positiven Ausschmückungen sie mir glauben, ob ich mich damit selbst verrate oder ob ich überhaupt noch weiter lügen möchte. Allerdings kann ich mir schon denken wie das läuft, wenn ich als Sophie Rist anrufe. Wenn nicht gleich die Eltern wieder auflegen, dann spätestens deren Kinder. Ach wenn das Leben doch nur einfach wär. Wenn es doch nur ein Muster gäbe, nachdem man jedes, wirklich jedes noch so kleine oder große Problem lösen könnte. Jeder hätte weniger Sorgen und müsste sich keine Gedanken mehr über seine Probleme, Ängste, Erfahrungen und Erlebnisse machen. "Die optimale Problemlösung, die immer funktioniert ist ganz leicht. FINGER WEG". Dies meinte mal ein Lehrer von uns. Super Lösung. Funktioniert nie, weil die Probleme erst dann kommen, wenn man etwas "angefasst" hat.
Aber sonst gäbe es den Satz "Die Sorgen sind das Gold von morgen" ja nicht. Fragt sich nur, wann ich mein Gold sehe, denn bis jetzt hat mich keine Sorge vor neuen Problemen bewahrt. Sie haben mir eher Neue beschert.Bevor ich, wider meinen Erwartungen, nochmal eingeschlafen bin, fiel mir noch dad Gedicht "Klassefrauen" von Erich Kästner ein. Indem übt er oberflächlich gesehen Kritik an der Mode aus, tiefgründig gesehen kann dahinter aber auch was völlig anders mitgeteilt werden.
So ist das immer mit der Kunst. Jeder sieht durch seine Erfahrungen was anderes.
Sogenannte Klassefrauen (von Erich Kästner)
Sind sie nicht pfui teuflisch anzuschauen? Plötzlich färben sich die "Klassefrauen", weil es Mode ist, die Nägel rot! Wenn es Mode wird sie abzukauen oder mit dem Hammer blauzuhauen, tun sie's auch. Und freuen sich halb tot.
Das wären die ersten Worte. Doch hinter dem ganzen Modenkram steckt so viel mehr für mich. So viel Energie, Wut, Willenskraft und Ausdrucksstärke. So viel Hass.
Natürlich kann ich nicht behaupten zu wissen, warum er das Gedicht geschrieben hat und zu welchen Zwecken. Ich kann nicht sagen, was dahinter steckt. Ich kann nur sagen, was ich darin sehe. Wenn wir in der Schule Gedichte interpetieren müssen, dann hoffe ich jedes Mal, das nicht ich, die Lösung vortragen muss. Meine Lösungen darin sind zu 80 % falsch. Ich sehe anderes zwischen den Zeilen.
In der Schule haben wir als Absicht des Verfasser Kritik am Modebewusstsein (bis heute aktuell; Manipulation durch die Werbung) und Kritik an der Politik (blindes Vertrauen; Machtübernahme der Nationalsozialisten) aufgeschrieben. Immerhin hat Erich Kästner von 1899 bis 1974 gelebt. Also gut möglich. Aber nicht für meine Interpretation. Doch Lehrer sind nicht kritikfähig. Wenn man meint, dass jeder ja was anderes zwischen den Zeilen lesen würde und dass man deswegen darüber keinen Test schreiben kann, dann schreiben sie ihn trotzdem. Trotz allem, was die Lehrer sagen, bin ich der Meinung, dass Interpretationen vom Auge des Betrachters abhängig sind.
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The Secret Of Live
RomanceKeiner versteht dich und du bist am Ende? Hast keine Lust mehr so weiter zu machen wie bisher? Genau so geht es Sophie. Ihre Welt besteht aus Träumen. Doch was wird sie dagegen tun? Sophie ist mehrmals umgezogen, hat nirgends eine Heimat, ein Zuhau...