02

470 49 6
                                    

Grace
Ich wusste nicht, wie ich mit Jenna umgehen sollte. Sie war so draufgängerisch, frech, unfreundlich und dazu noch eine Sadistin. Das ließ sie mich auch gleich schon an meinem zweiten Tag am Internat spüren.
"Ich gehe mit ein paar Mädchen aus den höheren Klassen saufen, komm mit." meinte sie zu mir, als sie sich am späten Abend noch umzog. Ich betrachtete sie ganz genau, nahm jedes kleine Detail von ihr auf. Ihr dünner Körper war übersähet von Narben. Sie waren sicher tief gewesen, so dick wie sie waren. In ihren Oberschenkel hatte sie das Wort Pain geschnitten. "Tat das nicht weh?" lenkte ich von ihrer Frage ab. "Schätzchen, das Gute an Borderline ist, dass man nichts spürt, egal was man sich antut. Also machst du dich jetzt mal fertig? Ich glaube kaum, dass du in deinem rosa Pyjama weggehen willst." Bei ihrer Bemerkung schaute ich verlegen auf den Boden. Ich fragte mich, ob es normal wäre, wenn man als Teenager so war wie Jenna. Aber das konnte nicht sein, kein normaler Mensch schnitt sich selbst ins Fleisch. Es war ein kindischer Gedanke, doch am liebsten hätte ich ihr über jede einzelne Narbe ein Pflaster geklebt. "Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist das nichts für mich." Meine unsichere Antwort gefiel ihr nicht, sodass sie eines meiner Bücher nahm und es bedrohlich aus dem Fenster hielt. "Was für ein Zufall, dass gerade unter unserem Fenster der Teich liegt." flötete sie gespielt unschuldig, worauf ich sie bettelnd ansah. "Ich komm ja mit! Nur bitte gib es mir zurück!" flehte ich. Sie grinste triumphierend, während ich mich schnell umzog und meine Brille aufsetzte. "Mit dir kann man so leicht spielen. Das macht Spaß." kicherte sie, wie ein kleines Mädchen. Trotzdem klang es gruseliger, als man es sich hätte vorstellen können. Sie machte mir Angst, aber dennoch wollte ich mich mit ihr anfreunden. Vielleicht würde sie dann netter zu mir sein.

Die viele Sauferei endete damit, dass ich sie, betrunken wie sie war, ins Zimmer tragen musste. Ich hatte nichts getrunken, dafür fehlte mir der Mut. "Sind wir bald da?~" Ihre müde Stimme hallte durch die Flure des Internats. Mein, damals noch unschuldiges, Herz rutschte mir vor Angst in die Hose, da uns jederzeit ein Lehrer hätte erwischen können. "Pscht!" zischte ich, worauf sie sich in meine Schultern krallte. Ich wimmerte leise vor Schmerz. "Das tut weh, hör auf." bat ich sie flüsternd. "Du solltest langsam lernen Schmerz zu ertragen. Er wird immer häufiger in dein Leben treten, daher solltest du darauf gefasst sein." sagte sie plötzlich tief ernst. Damit brachte sie mich noch mehr aus dem Konzept.
Ohne entdeckt zu werden, schaffte ich es in unser Zimmer, wo ich Jenna vorsichtig auf ihrem Bett ablegte und sie zudeckte. "Möchtest du noch ein Glas Wasser?" fragte ich lieb, worauf sie mich auf seltsame Weise anschaute. Es war eine Art erstaunter Blick, doch ich konnte es nicht genau definieren. Sie fasste sich wieder und nickte dann schließlich. Also ging ich ins Bad und füllte einen Becher. Ein Glas hätte sie in diesem Zustand sicher kaputt gemacht. Ich setzte mich zu ihr ans Bett und reichte ihr den Becher. Sie trank ihn in kleinen Schlücken aus und stellte ihn dann auf ihren Nachttisch. "Warum bist du so nett?" fragte sie leicht gereizt. "Weil ich dich gern hab." antwortete ich aufrichtig. "Wieso?"
"Weiß ich nicht. Einfach so."
"Du bist seltsam." kommentierte sie, worauf ich schmunzeln musste. "Das sagt genau die Richtige." gab ich zurück und lächelte sie an. Auch wenn sie mich böse anfunkelte, sah ich gerne in ihre schokoladenfarbigen Augen, die zu der Zeit noch voller Geheimnisse steckten. "Ich habe mir gerade etwas vorgenommen." sagte sie nun. Ich sah sie nur verwundert an. "Ich will dich. Ich will dir Dinge zeigen, die andere als die dunkle Seite der Liebe bezeichnen würden. Das wird spaßig." Ihr Grinsen war so breit, dass es fast schon zu ihren Ohren reichte. Ich verstand ihre Worte nicht, ich wusste nicht was sie wollte. "Wärst du dann glücklich?" Nach ihren Narben zu urteilen war sie es nicht und das wollte ich ändern. "Vielleicht. Kommt darauf an, wie du dich anstellst." Und damit war es beschlossen. Ich wollte ihr den Gefallen tun, dabei wusste ich nicht mal wieso noch worum es überhaupt ging. Ich wollte sie glücklich machen. "Soll ich dir mal etwas zeigen?" raunte sie fragend. Ich nickte perplex. "Komm näher." Wie von ihr gelenkt, kam ich näher. Unsere Nasenspitzen berührten sich und darauf auch unsere Lippen. Sie setzte einen Kuss an und biss mir so fest in die Unterlippe, dass ich schon mein metallenes Blut schmeckte. Ich wimmerte, es tat ziemlich weh. Sie sollte dennoch nicht aufhören. Sie sollte damit weiter machen, was auch immer es werden würde. Ich wagte es, den Kuss zu erwidern. Im Gegensatz zu ihr war ich sanft und zärtlich. Ich küsste sie so sachte, als wäre sie aus Glas. Als wir uns dann wieder voneinander lösten, sahen wir uns in die Augen. Uns beiden war eine Frage ins Gesicht geschrieben. "Warum fühlt es sich gut an?" fragten wir beide gleichzeitig und lachten daraufhin. Wir fragten aber nicht, was wir meinten.

In Love with the PainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt