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Grace
"Grace bitte ..." schluchzte sie, mit verkrampftem Körper in meinen Armen, in mein schon nasses Hemd. "Hey, beruhig dich." Ich strich ihr sanft über die kurzen braunen Haare und hoffte, dass ihre Tränen schnell wieder versiegten. Dabei hatte ich so viele Fragen. Was ist nur mit ihr geschehen, dass sie so zerstört hatte? Doch in diesem Moment konnte ich sie derartiges nicht fragen. Ich spürte ihre Labilität und ich wollte es auf keinen Fall noch schlimmer machen. Sie krallte sich, verzweifelt vom Weinen, in mein Oberteil und ich hielt mir ein schmerzhaftes Wimmern zurück. Stattdessen nahm ich eine ihrer dürren Hände in meine und strich über die blasse, schon fast durchsichtige, Haut. Es fühlte sich merkwürdig an, also fiel mein Blick herunter auf ihren frei gemachten Arm. Blut floss aus eingeritzten Stellen in ihrer Haut und ich schnappte erschreckt nach Luft. "Jenna!" Meine Stimme war lauter, als sie eigentlich sein sollte, doch sowas konnte ich nicht an ihr sehen. Mir wurde immer schlechter, während ich auf die herablaufenden Blutstropfen starrte. Ich sah die Form der Schnittwunden, doch das machte es kein Bisschen besser. "Jenna, wieso?!..." Mit verzerrtem Gesicht schaute ich sie an, doch ihre leeren Augen ruhten auf dem Boden. Sie antwortete mir nicht, hielt es für besser so zu tun, als wäre sie zu Stein geworden. Ich nahm sie am Handgelenk und wollte sie mit mir ziehen, damit ich in der Schule ihre Wunden behandeln konnte, jedoch blieb sie angewurzelt stehen und ließ sich keinen Zentimeter von ihrer Position bewegen. "Jenna-"
"Nein, Grace! Ich habe es dir gesagt. Ich bin gefährlich. Du willst mir nur helfen, das weiß ich, aber ich bin krank! Versteh das doch! Nur Zerstörung lässt mich wirkliche Emotionen spüren und das möchte ich dir nicht antun, denn das hast du nicht verdient. Du bist ein gutes Mädchen, Grace. Ich leider nicht." Ihre kühlen großen Augen bohrten sich in meine. Wie sollte ich das bitte verstehen? "Bitte, dein Arm ..." Ich mied es noch einmal hinzusehen. "Grace, ich will, dass du jetzt zur Schule gehst. Ohne mich." Vorsichtig schob sie sich aus meinem Griff. "Ich hätte niemals damit anfangen dürfen. Niemals hätte ich dir so wehtun sollen. Du bist nicht so, du bist lieb. Vielleicht ziehst du mich deswegen so an. Weil Gegensätze sich anziehen, nicht wahr?" Ich sah erneute Tränen in ihren Augen aufblitzen. Sie wirkte noch viel blasser, als schon zuvor und ein unbeschreiblich schreckliches Gefühl breitete sich in meiner Brust aus und schien nach meinem Herz zu ringen. "Was hast du vor?..." fragte ich mit heiserer Stimme. Warme Flüssigkeit lief über meine Wangen und ließ sie zu Boden fallen. Der Boden unter uns war mit Pfützen von traurigen und schmerzhaften Tränen und Blut von Jenna's Arm bedeckt. Ein leichtes Lächeln zuckte plötzlich über ihre Lippen. "Mach dir keine Gedanken. Ich werde auf dich warten, ja? Vielleicht landest du ja auch in der Hölle." Sie lachte über ihre eigenen Worte und die Tränen sprangen nun über den Rand ihrer Augen und flossen ihr geisterhaftes Gesicht herunter. Ohne es zu merken, hatte sie sich von mir entfernt und war über das Gerüst der Brücke geklettert. Es wurde mir erst richtig klar, als sie mir ein letztes Mal ein breites Lächeln zeigte. Zwar rannen die Tränen wie Bächer über ihre Wangen, doch so glücklich Lächeln hatte ich sie zuvor nie gesehen. "Zeit zu gehen." formten ihre Lippen. Ihre dünnen Finger lösten sich von der Brüstung, das Blut in meinen Adern gefror und ein markerschütternder Schrei entfloh meiner Kehle. Ihr vernarbter Körper fiel, als wären ihr die unsichtbaren Flügel komplett zerbrochen worden und das letzte was ich von ihr hörte, war ein zufriedenes Lachen. Ich hörte nicht auf zu schreien, bis kein Ton mehr aus mir kam. Vollkommen am Ende brach ich in mich zusammen und kauerte auf dem Boden, drückte mit Fäusten in meinen Bauch, um zu sehen, ob ich nur einen Alptraum hätte. Doch das war kein Alptraum, das war die Realität. "Jenna!" Nicht einmal ein Hauchen war das. Es kam stumm und schmerzhaft aus meinem Mund. Ich kroch an das Gitter und sah hinunter auf die Gleise. Alles in mir verkrampfte sich, ich rang nach Luft und versuchte es irgendwie zu realisieren. Ihr toter Körper lag dort, ein Bein war verdreht und ihr Hinterkopf war aufgeplatzt. Die nun seelenlosen Augen schauten in den grauen, von Wolken bedecktem, Himmel hinauf, dennoch lächelte sie. Als wäre es eingefroren. Sie lächelte, froh darüber den Schmerz los zu sein. Das Blut von ihrem Arm klebte immer noch an meinen Händen. "Nein, nein, nein, nein, nein! NEIN!" Ich spürte ein Paar Hände auf meinen Schultern, die mich wegzogen. Um mich herum standen plötzlich Menschen, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Widerspenstig wollte ich mich losreißen, wollte zu Jenna rennen und sie wach rütteln, aber ich war zu schwach. Vor lauter Verlust, Schmerz und Grausamkeit sackte ich in mich zusammen und blendete die Welt um mich herum aus.

Zwei Jahre später
Ein paar meiner neuen Mitschüler werfen mir verstohlene Blicke zu, als ich an ihnen vorbei über den Schulhof gehe. Wie ich Menschen doch hasse. Kommt mir bloß nicht zu nah, sonst kratze ich euer kleines bisschen Leben aus euch heraus. Als ich gerade kurz davor bin einen jüngeren Jungen anzukeifen, weil er mich beim Laufen angerempelt hatte, fällt mein Blick auf ein dünnes blasses Mädchen in der Ecke des Hofes. Zusammengekauert sitzt sie dort und hat den Kopf in einem Buch vergraben. So kleinwüchsig war Jenna auch ... Mit langsamen Schritten gehe ich auf sie zu. Jenna hatte auch so helle kränkliche Haut ... Nur noch ein paar Meter. Selbst ihre magere Statur gleicht ihr ... Das fremde Mädchen, mit den bunten Haaren, schaut zu mir auf. Nur die Augen sind anders. Die Feindseligkeit fehlt. Ihre sind hellblau, wie die eines unberührten Engels. Jenna's waren voller Wut und Schmerz. Ich lasse mich neben ihr auf der Bank nieder. "Was liest du da?"
Du bist zwar nicht Jenna, aber mit ein wenig Fantasie könnte man das richten. Dann bin ich nicht mehr alleine. Hörst du Jenna? Jetzt muss ich nicht mehr einsam sein!

In Love with the PainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt