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Jenna
Am nächsten Morgen wachte ich schon früh auf. Es war gerade mal fünf Uhr, als ich aus dem Bett stieg, mich anzog und die unschuldige Grace im Zimmer zurück ließ. Ich brauchte unbedingt frische Luft. Da auch heute Samstag war und wir somit keinen Unterricht hatten, machte ich einen langen Spaziergang zu meinem Lieblingsort. Für andere mag es nichts Besonderes gewesen sein, doch ich war hier gerne auf der großen verlassenen Brücke, die über den Gleißen thronte. Sie war so alt, dass sich Efeu Ranken um das Geländer wickelten und dort das gestrichene Metall abblätterte. Die Ranken hielten diese ganze Konstruktion gerade noch so zusammen. Man hätte denken können, dass sie jeden Augenblick einstürzen könnte und trotzdem liebte ich diesen Platz. Vielleicht auch genau deswegen. Weil mich dieser verrottete alte Ort an mein eigenes Leben erinnerte. Ich setzte mich ans Geländer und ließ meine Beine runterbaumeln. Meine Gedanken landeten wieder bei Grace, die wohl zu der Zeit immer noch seelenruhig vor sich hin schlief. Zu Anfang konnte ich sie nicht ausstehen, sie war so perfekt. Das komplette Gegenteil von mir. Sie hatte schöne leicht gebräunte Haut, ich sah aus wie ein Vampir, sodass man jede einzelne Ader von mir sehen konnte. Sie hatte die perfekte Figur mit perfekter Oberweite, ich war kleinwüchsig und flachbrüstig. Sie hatte diese liebe und nette Ausstrahlung und bei mir dachte jeder immer, dass ich einen gleich umbringen würde. Aber alles würde sich ändern. Ich würde ihre Perfektion zerstören und ihr zeigen, wie es ist, schwerwiegend zu leiden. Dabei wusste ich nicht einmal warum. Ich konnte mir selbst nicht mal erklären, was da zwischen mir und Grace war. Doch warum war sie eigentlich genau jetzt gekommen? Wäre ich ihr nicht an ihrem ersten Tag begegnet, hätte ich es schon längst getan. Auch jetzt war ich nur einen kurzen Schups davon entfernt. Es ging nicht. Ich hatte mir letztes Jahr so viel Mühe gegeben, um alles, was mich am Boden hielt, zu beseitigen und unabhängig zu werden und jetzt war sie da. Sie war wie eine der Efeu Ranken, die sich um mein Bein schling und nicht los ließ, mich gerade noch so zusammen hielt. Diese elenden Gedanken, ich hasste sie! Niemand konnte sich im geringsten vorstellen, wie schrecklich das war. Niemand konnte hören, wie ich innerlich schrie und daran verreckte. Meine Hand glitt in meine Hosentasche und zog mein Klappmesser heraus. Nur ein bisschen, denn das bräuchte ich, um mich zu beruhigen. Anders würde es nicht gehen. Ich krempelte meine schwarze Strickjacke hoch, setzte an meinem Arm an und schnitt mit dem kalten Metall in meine Haut. Wie erlösend dieser kurze und kaum fühlbare Schmerz doch war. Ich schnitt noch einmal und noch einmal, bis mir auffiel, dass ich unterbewusst ein Herz geritzt hatte. Was war nur los mit mir?! Was machte Grace mit mir?! Irgendwann würde sie sowieso abhauen, weil sie meinem Verlangen nach Schmerz nicht mehr Stand halten könnte. Meine Blutstropfen bahnten sich den Weg runter über meinen blassen Arm und fielen, wie in Zeitlupe, am Ende meiner Fingerspitze zu Boden. Ich hörte das leise Klack des Aufpralls auf den Schienen. Manchmal wünschte ich mir, dass mein Körper genauso zu Grunde stürzte. Genau hier und nirgendwo anders. Hier wäre ich allein und würde in Ruhe gelassen werden. Was für eine märchenhafte Vorstellung das doch war. Ich würde nie wieder nachhause gehen müssen. Nie wieder würde ich meinen schwachen Körper in die harten und gewaltsamen Hände meines pädophilen Erzeugers geben müssen. In solchen Momenten fiel mir nochmal so wirklich auf, wie erbärmlich ich doch war. Ich hatte nie etwas dagegen tun können. Alles fing an, als meine feige Mutter sich einfach aus dem Staub machte und mich eiskalt zurück ließ. Das würde ich ihr niemals verzeihen. Falls sie mir jemals wieder unter die Augen treten würde, würde ich sie nur anschreien. Ich würde ihr all mein Leid ins Gesicht spucken. Wie oft ich schon seit meinem 8 Lebensjahr von diesem arbeitslosen und trinkenden Penner vergewaltigt und missbraucht wurde. Früher dachte ich, dass sich alles irgendwann bessern würde, doch es wurde nur schlimmer. Die Narben auf meinem Körper häuften sich immer mehr und mehr, bis es kaum noch freien Platz für Neue gab. "Jenna?" Ihre besorgte und unschuldige Stimme riss mich aus meiner katastrophalen Gedankenwelt. Grace setzte sich zu mir und strich mir sanft über mein Gesicht. Sie wischte meine brennenden und schmerzenden Tränen weg, die mir erst jetzt auffielen. Sie liefen mir wie Bäche über das blasse Gesicht. "Lass das!" Ich schlug ihre Hand weg und rappelte mich auf. Sie sollte mich nicht so anfassen mit dieser zärtlichen Art. Ich hielt das nicht aus. Mit großen kastanienbraunen Augen schaute sie mich bestürzt an. "Was hast-" Ich ließ sie nicht einmal zu Ende fragen. "Hör auf damit! Ich will das nicht! Ich bin nicht Julia, die sich nach den liebevollen Berührungen von Romeo sehnt. Ich kann diese Gefühle nicht verstehen, sie bringen mich so durcheinander. Ich weiß nichts mit ihnen anzufangen, also lass es verdammt nochmal!" schrie ich sie an und ließ meinen unzähligen Tränen freien Lauf. "Jenna, beruhig dich." Sie kam mit vorsichtigen Schritten auf mich zu. "Mich beruhigen? Ich will mich nicht beruhigen! Ich will-" Weiter kam ich nicht, denn da hatte sie ihre Arme schon um meinen schwachen Körper geschlungen und mich zu sich gezogen. Es machte mich so fertig in ihren behutsamen Armen zu liegen. Das war nicht meine Welt. Ich wusste nicht, wie so etwas funktioniert.

In Love with the PainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt