23. Dezember, 10:30 Uhr, Portland Oregon St. Vincent Medical Center

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Kim

„Mach dich endlich auf den Weg, ansonsten kommst du hier vor Silvester gar nicht mehr raus. Michael wartet sicher schon seit einer Stunde auf dich. Wann wollte er dich abholen?“ Mit einem überdeutlichen Blick in Richtung Uhr, die gerade 10:34 anzeigte, verschränkte die leitende Oberschwester ihre Arme vor der Brust und sah mich böse an.

Was ich mir nun wirklich nicht von jedem bieten lassen würde, aber Stace hatte hier auf der Unfallchirurgie schon zum Inventar gezählt, da war ich noch lausige Assistenzärztin gewesen. Wie eine Klucke hatte sie sich um uns gekümmert und versucht uns „groß zu bekommen“, wie sie es immer gesagt hatte. Tja, mich hatte sie mittlerweile bis zur Chefchirurgin groß bekommen und wohl gerade deshalb war sie diejenige, die mich immer noch auf den Boden der Tatsachen zurückholte und mir Paroli bot, wenn ich es denn brauchte.

Und im Moment, da brauchte ich es wohl gerade...

„Komm schon, Kim, du bist seit gestern Abend im Dienst und damit mehr eine Zumutung für die Patienten als eine Hilfe.“ Damit nahm sie mir das Klemmbrett mit der Patientenakte aus der Hand und überflog es kurz, bevor sie auf in die Halterung vor der Zimmertür steckte.

Sie hatte recht. Ich spürte wie die Müdigkeit an mir zerrte und meine Konzentration mehr und mehr nachließ. Mein Stolz hätte es niemals zugelassen, dass ich das vor irgendjemand anderem zugab, aber ich brauchte wirklich Feierabend. „Michael versteht das schon.“ Er war immerhin das Verständnis in Person, wenn man so wollte. Nichts, aber auch wirklich gar nichts, konnte den Mann aus der Ruhe bringen und das war eine Eigenschaft, die ich an ihm über die Maßen liebte. Aber an manchen Tagen verfluchte ich sie auch, denn wie sollte man sich mit einem Mann streiten, dessen Temperament man nicht mal erahnen konnte?! Es ging einfach nicht und deshalb fühlte ich mich am Ende noch schäbiger, wenn ich mal wieder eine meiner Launen an dem Mann ausließ. Was in letzter Zeit relativ häufig geschah. „Ich muss nur noch mal in Zimmer 5 vorbeischauen und dann bin ich auch schon weg. Versprochen.“

„Oh nein, Kim.“ Stace nahm mich am Oberarm und zog mich mit sich in Richtung Umkleideraum, während ich nur noch einen letzten, beängstigten Blick nach hinten werfen konnte. Weihnachten... Weihnachten stand vor der Tür und an kaum einem anderen Tag im Jahr hatte man hier so viel zu tun. Nicht nur, dass an Feiertagen die Selbstmordrate immer hoch ins Unermessliche schoss, nein. Dazu kamen noch die ganzen Autounfälle, teils vom Wetter verursacht, teils vom Alkohol den die Leute zu solchen Festen immer in sich hinein kippten. Dann noch eine Reihe Verletzungen die durch Familienstreits verursacht wurden. Herzinfarkte von dem ganzen Trubel. Und und und...

Die Tage im Jahr an denen die meiste Hektik herrschte und ich wäre nicht da, um wenigstens ein bisschen Ordnung in die Sache rein zu bringen. Nicht das ich meinem Team nicht zutraute es allein gebacken zu kriegen, aber... Mir wäre wohler wenn ich hier wäre. Wenn ich da wäre, wo ich hingehörte. „Ich hatte über die Feiertage schon seit... zehn Jahren nicht mehr frei. Das geht mir ganz schön an die Nieren.“ Gab ich zu, denn seit Jennas Geburt hatte ich es einfach nicht mehr gewagt. Klar, zur Bescherung zu Hause zu sein und in die beiden leuchtenden Gesichter meiner Mädchen zu sehen war das absolut Beste an Weihnachten, aber... Hier wurde ich auch gebraucht und...

„Du bist nicht für alles verantwortlich. Schreib dir das endlich hinter die Ohren, Mädchen. Deine größte Sorge muss immer zuerst dir selbst gelten. Wundert mich ohnehin, dass du noch kein Burnout hattest.“

Was ich einzig und allein Michael und den Mädchen zu verdanken hatte, denn wenn nach einer zwölf Stunden Schicht zu Hause nichts als Dreck, Verwüstung und Gezank auf mich warten würden, wäre ich wohl schon krank im Kopf. Was stattdessen auf mich wartete? Die üblichen Familienprobleme, aber oben drauf bekam ich noch einen Mann der mir nach all den Jahren immer noch die Füße massierte und mit unerschöpflicher Geduld meine Launen ertrug. „Du hast nur Angst, dass ich dann für Monate ausfällen würde, Stace.“

Die etwas andere Weihnachtsgeschichte - Ein Meet and Greet mit den HuntersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt