Sie hatten es noch geschafft.
Obwohl der Junge in seinen abgelaufenen Schuhen fast mehrfach den vereisten Boden geküsst hatte, erreichten sie die besagte Bushaltestelle noch rechtzeitig. Zu ihrer Verwunderung kaufte der Typ für sie beide zwei Tickets.
„Damit hätte ich ja nicht gerechnet“, rutschte es Carolina raus, als er sich neben sie hinsetzte.
Er verdrehte lachend die Augen, knuffte sie in die Seite. „Sei mal nicht so skeptisch mir gegenüber. Deine Vorurteile kannst Du gerne in deiner Villa lassen.“
„Die gehört mir nicht“, flüsterte Carolina. Sie blickte zum Fenster hinaus. Alles sah so schön festlich und herrlich aus. Die Schneeflocken tanzten da draussen umher, während die Häuser allesamt noch ihre Weihnachtsbeleuchtung trugen. Es hätte schöne Bilder für Postkarten gegeben.
„Du.“
Carolina drehte sich hastig um. Zu sehr war sie in das Schneetreiben vertieft gewesen, dass sie gar nicht zugehört hatte, was er ihr zusagen hatte. Erst als er sie an der Schulter berührte, zuckte sie zusammen.
„Wenn die Villa nicht Dir gehört, wieso lebst Du denn da?“
„Ich bin ein Au-Pair Mädchen“, murmelte Carolina. So unauffällig war ihr Akzent doch gar nicht? Wieso war der Idiot denn nicht von selbst drauf gekommen.
„Jetzt hab ich zumindest eine Erklärung für deinen Akzent“, lachte dieser just in dem Moment, als Carolina daran dachte. „Ich hab zuerst damit gerechnet, dass das wohl das Chalet deiner Familie ist.“
Carolina nickte stumm. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Zudem sprach der Junge für sie viel zu schnell. Er verschluckte die meisten Worte oder sprach diese undeutlich aus.
„Und woher kommst Du, wenn ich fragen darf?“
„Irland“, gab Carolina von sich. Ihr Blick wandte sich zum Fenster raus, während in ihrem Kopf eine Diskussion tobte. War es überhaupt richtig von ihr gewesen, dass sie es zugelassen hatte von ihm mitgezerrt zu werden? Wer wusste überhaupt, dass er nicht irgendwelche Perversitäten mit ihr vorhatte?
Irgendwann wurde für ihn die Stille, welche sich über sie gelegt hatte, zu viel.
„Ich bin Bastion“, meinte er und hielt ihr seine Hand hin.
„Bastion?“, fragte Carolina spöttisch. Es tat ihr zwar leid, dass sie sich nicht diesen Unterton hatte verkneifen können. Aber kein Mensch heisst Bastion. Man heisst wennschon Bastian oder Bastien. Aber Bastion? Das war doch eine Art Festung.
Doch zu ihrer Verwunderung nickte der Typ mit den grünen Haaren zustimmend. „Meine Eltern waren halt speziell. Sie wollten einen Trend setzten.“
„In dem sie ihren Sohn nach einer Festung nennen?“, lachte Carolina, worauf dieser Bastion die Augen verdrehte. „Du heisst bestimmt nicht besser.“
„Carolina“, meinte sie dann. Sie nahm seine Hand, welche er immer noch ausgestreckt hatte, schüttelte diese. „Freut mich Dich kennenzulernen, junges Mädchen aus Irland.“
Einen Seufzer konnte sich Carolina jedoch nicht verkneifen. „Die Freude ist ganz meinerseits.“
„Wieso hast Du dich denn entschieden hierher zu kommen?“, fragte dieser Bastion gleich weiter.
„Du stellst zu viele Fragen.“
„Ich will Dich doch nur kennenlernen!“, rief er etwas lauter aus. Eine leichte Röte schoss in Carolinas Gesicht. Obwohl sie sich geehrt fühlte, hatte sie im Geringsten kein Interesse daran, seine Fragen zu beantworten. „Erzähl mir lieber, wohin wir fahren“, meinte Carolina stattdessen.
Der Bus hielt. Doch der Junge neben ihr machte keine Anstalten auszusteigen. Stattdessen blieb er sitzen. Wohl ein Zeichen, dass sie noch weiter fuhren. „Noch zwei Haltestellen“, meinet Bastion, „dann sind wir da.“
„Und wo genau sind wir dann?“
„Lass das lieber mal ein Geheimnis bleiben. Dann hast Du eine Überraschung.“
Um ehrlich zu sein, hasste Carolina Überraschungen über alles.
Sie verband nichts Gutes damit. Zu oft hatten Überraschungen für sie damit geendet, dass sie enttäuscht wurde. So wie auch ihr Au-Pair Aufenthalt. Eigentlich hätte sie nach Paris gewollt, die Stadt der Liebe. Wie so viele junge Mädchen hatte sie Jahrelang davon geträumt durch die Strassen dort zu wandern. Sie wollte dort so viel mehr entdecken als den Eiffelturm.
Aber stattdessen hatte man sie an diesen Ort geschickt. Das einzig schöne, was sie in diesem halben Jahr hier entdeckt hatte, war der See. Und diesen kannte sie nur so gut, weil sie mit ihren Gastkindern an den warmen Tagen dort immer spazieren war.
Bastion hingegen war der totale Fan von Überraschungen.
Lieber machte er welche, statt selbst überrascht zu werden. Was gab es schöneres, als das Strahlen auf dem Gesicht eines Menschen, wenn die Überraschung ankam?
Nur bei Carolina war er sich nicht sicher. Seine Überraschung für sie war nichts Spezielles. Und so, wie er sie so im Augenwinkel musterte, schien sie eher eine zu sein, die den Luxus kannte und schätzte. Er konnte ihr keinen solchen Luxus bieten. Der einzige Luxus, den er besass, war sein Plattenspieler. Aber Mädchen wie Carolina waren doch nie von einem solchen Teil begeistert. Da musste mehr her. Champagner und Kaviar.
Insgeheim hoffte er dennoch, dass er das Mädchen neben sich auf dem Sitz falsch einschätzte. Er hoffte, dass sich dieses Bild von ihr nur auftat, weil sie in diesem grossen Haus lebte. Vielleicht konnte sie ja gefallen an seinem Lifestyle finden. Auch wenn er daran zweifelte.
Das Ziel der beiden wurde angekündigt, worauf Bastion erneut nach der Hand des Mädchens griff. Er zog Carolina hinter sich her aus dem Bus heraus.
Mittlerweile schneite es stärker als zuvor. Aber es waren immer noch schöne, dicke Flocken. Carolina verlor ihren Blick erneut in der Winterlandschaft. Um ehrlich zu sein, war diese verschneite Gegend vielleicht schöner als ihr gewünschtes Paris.
„Wohin gehen wir?“, fragte Carolina, als sie eine Weile neben dem Jungen mit den grünen Haaren hergelaufen war. Dieser schmunzelte. „Ein paar Strassen weiterrunter lebt einer meiner Kumpels.“
Carolina musste leer schlucken. Was hatte dieser Bastion bloss vor, dass er sie zu einem ihrer Kumpels zog. „Und was wollen wir da?“
„Wirst Du gleich sehen. Und glaub mir! Du wirst nicht enttäuscht sein!“
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too good to be bad
Short StoryBastion Zorak. Der Junge mit den grünen Haaren. Der grossen Klappe. Den die ganze Stadt für seine Dummheiten kennt. Carolina Murphy. Das Au-Pair Mädchen, welches an Silvester auf den jungen Punk trifft und von all seinen Taten nichts weiss. Doch w...