Kapitel 1

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Der Alptraum begann genau sechs Minuten nach zwei an einem warmen Julinachmittag. Ich lag im Garten auf einem Handtuch und blickte in den wunderschönen, wolkenlosen Himmel. Wer ahnte da, dass sich mein einigermaßen normales Leben in dieser Sekunde ändern würde- Gewaltig ändern würde. Wenn mich vor diesem Tag jemand gefragt hätte, ob ich glücklich bin, dann hätte ich ja geantwortet. Mein Dad ist vor sechs Jahren bei einem Autounfall gestorben, aber mittlerweile habe ich das gut verarbeitet, und irgendwie ist es so als wäre er trotzdem hier. Eigentlich glaube ich nicht an so einen Blödsinn wie das Jenseits oder, dass alles was passiert einen Sinn hat. Aber er ist bei mir. Ich weiß es. Ich rede immer mit ihm, wenn es mir schlecht geht, wenn ich Probleme in der Schule habe, mit Freunden, mit meiner Mutter oder wenn ich einfach nur glücklich bin. Meine Mutter kommt damit auch ganz gut klar. Ab und zu verbringt sie den ganzen Tag weinend im Bett, aber das passiert nur drei oder viermal im Jahr. Außerdem hab ich eine beste Freundin, sie heißt Caroline und wohnt auch in unserer Straße. Wir treffen uns so ziemlich jeden Tag und quatschen über Gott und die Welt bis meine Mutter anruft und mich nach Hause schickt. Wie ich diese Abende liebte, an denen wir uns alles erzählen konnten, man spürte es schon von Anfang an. Meine Mutter bekam mich, schon mit 15, es war nicht geplant, aber so war es nun mal. Ich habe mit Abstand die jüngste Mutter von meinen Freunden, viele beneiden mich darum, aber ich finde es schrecklich. Ständig führt sie sich auf wie eine 16 Jährige, geht auf Partys und tut nicht das was Mütter eigentlich tun sollten. Aber im Großen und Ganzen ist sie eine gute Mutter. Vor fünf Jahren kam dann Zoe auf die Welt, genau am gleichen Tag wie meine Tante Grace. Meine Mutter hat sich total gefreut, als sie erfuhr, dass die Babys wahrscheinlich am gleichen Tag geboren werden, aber der Tag wurde zur Hölle. Grace starb sofort nach der Geburt. Meine Großmutter Nicola war für die ersten Tage danach nicht ansprechbar und suchte ständig die Nähe zu Zoe, Harry mein Großvater vermutet, sie brauchte einen Ersatz für ihr totes Baby. Manchmal habe ich das Gefühl, sie liebt Zoe noch mehr als meine Mutter. Mit meiner hellen Haut, hunderten Sommersprossen und leicht rötlichem Haar, ähnle ich meiner kleinen Schwester kein bisschen. Vor ein paar Jahren, nach Dad's Tod sind wir alle hierher gezogen. Meine Eltern, Zoe, meine Großeltern und ich. Ich liebe Canterbury. Diese engen verwinkelten Gassen und Touristen, die auf den Grachten mit Booten direkt vor unserem Haus fahren. Hier herrscht ein ganz besonderes mittelalterliches Flair. Es ist einfach wunderschön und ich möchte hier für den Rest meines Lebens bleiben. Doch an diesem einen Julinachmittag um genau sechs Minuten nach zwei änderte sich alles. Meine Mutter riss die Gartentür auf und rannte auf mich zu. An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich schon sehen, dass etwas nicht stimmte. Sie war kreideweiß und die Fröhlichkeit, die man sonst immer in ihren Augen sah, hatte sich in einen leeren, trostlosen Blick verwandelt. Vor lauter Erschöpfung konnte sie nicht mehr normal sprechen und ich verstand nur Bruchteile wie: „ Zoe, Kindergarten, angerufen, weg." „ Mum, jetzt beruhige dich erstmal!" Meiner Mutter schloss für ein paar Sekunden die Augen und versuchte es nochmal: „ Zoe ist weg! Ich wollte sie abholen, aber sie war nicht mehr da! Die Betreuerin hat gesagt, sie wollte auf dem Parkplatz warten. Ich habe schon halb Canterbury angerufen und bin den Weg tausendmal abgefahren." Gänsehaut überzog meine nackten Arme, ich sagte: „ Zoe ist bestimmt bloß zum Spielplatz gegangen oder sowas." Aber in Wirklichkeit spürte ich, dass etwas passiert war. Sofort stand ich auf und machte mich auf dem Weg zur Garage. Gestern war es einfach gewesen dorthin zu gehen ich hatte mich auf die Verabredung mit Caroline gefreut, aber jetzt war es etwas ganz Anderes. Jeder Schritt ließ mich zusammenzucken. Ich fuhr den Weg zum Kindergarten ungefähr 15-mal ab-Keine Spur. Diesmal beschloss ich auch den Wegesrand abzusuchen. Plötzlich sah ich vom Weiten etwas kleines Rotes. Ich fuhr schneller und erkannte, dass es eine Haarspange war, sie war mit Blümchen verziert und an einem Ende abgerochen. Ich stieg vom Fahrrad ab und lehnte es gegen einen Baum. Als ich die Spange aufhob, begann mein Herz plötzlich schneller zu schlagen. Die Spange gehörte mir, Zoe liebte sie und ich erlaubte es manchmal, dass sie die Spange ausleiht, wie heute. Wie heute. Diese zwei Wörter wiederholten sich in meinem Kopf. Wie heute. Ich steckte sie in meine Hosentasche und ging weiter. In diesem Moment vergaß ich zu atmen, denn was ich sah war kein Alptraum. Es war ein Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen, die ihre große Schwester gemacht hatte. Sie hatte knallrote Schuhe, die gar nicht zu dem Rest des Outfits passten, aber es waren ihre Lieblingsschuhe. Sie hatte sie vor einem Jahr zum Geburtstag bekommen und trug sie seitdem jeden Tag. Woer ich das alles wusste? Weil es meine Schwester war.


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