Kapitel 2 - Familientreffen

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Gleich nachdem Anya aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, atmete Lexa tief durch und schloss die Augen. Sie ärgerte sich, dass sie vor Anya ihre Tränen nicht zurückgehalten hatte, doch die Worte der Älteren hatten sie härter getroffen als der unsanfte Schlag der sie kurz vorher zu Boden geschickt hatte. Es war nun fast ein Jahr her, dass Anya als neue Kommandantin der Trikru ihr Dorf aufgesucht hatte. Als Anführerin ihres Clans, war es ihre Pflicht einen guten Nachfolger auszubilden und so hatte sie Lexa zu ihrer Sekundantin erwählt. Wieso sie diese Entscheidung getroffen hatte, verstand Lexa jedoch nicht. Seit sie bei Anya lebte, hatte sie diese immer nur enttäuschen können. Ganz gleich wie viel Mühe sie sich gab, immer fand Anya einen Grund wieso es ihr nicht genügte. Schon oft war Lexa versucht gewesen, Anya nach einer ihrer Belehrungen zu fragen wieso sie sich überhaupt um ihre Ausbildung bemühte, doch sie wusste das es ihr nicht zustand ihre Ausbilderin in Frage zu stellen. Frustriert öffnete Lexa wieder ihre Augen und sah sich um. Sie wusste nicht wie spät es war, doch ihrem Gefühl nach, hatte sie nicht viel Zeit wenn sie vor Sonnenuntergang wieder in Tondc sein sollte und das letzte was sie wollte, war Anya ein weiteres Mal an diesem Tag enttäuschen. Schnell wischte sie sich die Tränen von den Wangen und atmete noch einmal tief durch, dann lief sie in die Richtung los, in der Anya vor wenigen Augenblicken verschwunden war.

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Es waren nun gute zwei Stunden vergangen, seit Anya ihren Schützling alleine zurückgelassen hatte. Sie wusste dass es nicht ganz ungefährlich war, denn es war nicht ungewöhnlich dass Menschen im Wald einfach verschwanden oder von einem Reaper getötet wurden. Die Sonne war längst hinter dicken Regenwolken verschwunden und bald würde die Nacht hereinbrechen. Auch wenn sie es nach außen niemals zeigen würde, kämpfte Anya innerlich darum Lexa nicht doch entgegen zu reiten. „Sie müsste längst wieder hier sein..." murmelte sie immer wieder vor sich hin und starrte in den Wald, in der Hoffnung endlich die Gestalt des jungen Mädchens auf sich zulaufen zu sehen. Mittlerweile hatte der Regen eingesetzt und erschwerte ihr die Sicht, doch gerade als sie beschloss doch nach Lexa zu suchen, stolperte diese dem Dorfplatz von Tondc entgegen. Anya atmete erleichtert auf und ein Lächeln stahl sich auf die sonst so harten Züge. Lexa war noch sehr jung, trotzdem hatte sie schon oft bewiesen wie zäh sie doch war und auch jetzt enttäuschte sie Anya nicht. Noch immer außer Atem und vor Kälte zitternd, erreichte das junge Mädchen nun endlich die ersten Blechhütten, die das Zuhause der Grounder in Tondc darstellten. Anyas Hütte befand sich etwas oberhalb des Dorfplatzes, so dass es ihr möglich war immer einen Überblick über Tondc zu behalten. Auch jetzt konnte sie Lexa dabei beobachten, wie sie ihre Hände in die Hüften stemmte und versuchte wieder zu Atem zu kommen.

Gerade als Anya sich immer noch mit einem zufriedenen Lächeln auf Gesicht von dem Geschehen abwenden und zurück in ihre Hütte treten wollte, trat Gustus in ihr Blickfeld „Du solltest etwas nachsichtiger mit ihr sein, sonst wird sie ihr Konklave erst gar nicht erleben." Seine Stimme war ruhig, doch Anya stritt nicht zum ersten Mal mit ihm über Lexas Ausbildung, so dass sie den stummen Vorwurf in seiner Stimme durchaus wahrnahm. Gustus hatte Lexa von ihrem Heimatdorf nach Tondc begleitet, als Anya sie zu ihrer Sekundantin erwählt hatte. Er war kein Verwandter des Mädchens, doch wohl das was dem am nächsten kam. Er hatte Lexa bei sich aufgenommen, nachdem ihr Vater vor vier Jahren von Reapern getötet wurde. Seit dem hatte Lexa keine lebenden Verwandten mehr, denn ihre Mutter war bereits im Winter nach Lexas Geburt an einer Sepsis gestorben. Anya wusste das Gustus sich um Lexas Wohl sorgte, doch sie hatte keinerlei Geduld für die ständigen Auseinandersetzungen mit dem Krieger. Sie drehte sich ohne eine Erwiderung auf dem Absatz um und verschwand in ihrem Heim, um dort saubere sowie trockene Kleidung für Lexa zusammen zu suchen, die jeden Moment zu ihnen stoßen würde. Doch gegen ihre Hoffnung, das Gustus ihren Hinweis verstand und ging, folgte dieser ihr bis in den kleinen Wohnraum den sie sich seit fast einem Jahr mit ihrem Schützling teilte. Während Anya umherlief und versuchte ihn möglichst zu ignorieren sprach Gustus weiter auf sie ein „Du weißt dass sie außer dir und mir niemanden hat, Anya. Sie hat nicht einmal ihre Eltern wirklich gekannt.". Anya schnaubte und legte eine frische Hose und ein leicht gefüttertes Shirt auf Lexas Schlaflager bevor sie sich zu Gustus umwand und dem breit gebauten Mann ein Stück entgegen trat „Ich habe meine Eltern auch nie gekannt und es hat mir nicht geschadet. Lexa war noch zu jung als ihr Vater getötet wurde, also gibt es nichts was sie nun vermissen könnte." Anyas Stimme war wie immer kühl und distanziert. Im Gegensatz dazu wurde Gustus nun etwas eindringlicher „Wir wissen nicht was sie gesehen hat. Sie hat bis heute kein Wort darüber verloren." „Und das sollten wir auch nicht!" Anya hatte ihre Hände erhoben, zum Zeichen das diese Diskussion beendet war. Gustus hatte ihr erzählt, dass Lexa bei dem Angriff auf ihren Vater dabei gewesen war und dass niemand wusste an was sie sich erinnern konnte. Lexa schwieg meistens und Anya würde sie auch nicht dazu zwingen mit ihr zu reden. Die Erinnerung an ihren Vater würde schmerzhaft sein, wenn sie denn überhaupt welche hatte und es viel ihr ohnehin schon schwer genug ihre Gefühle in den Hintergrund zu stellen. Im Grunde war es für Lexa wohl besser, wenn sie niemanden hatte den sie zurücklassen musste, wenn sie bald ihrem Schicksal folgen und ihre Ausbildung in Polis beginnen würde. Es würde ihnen beiden nur Schmerz zufügen, wenn Anya ihre Gefühle für Lexa offen mit ihr teilen würde.

Ohne ein weiteres Wort, verschwand Gustus wieder, kurz darauf betrat endlich Lexa den Wohnraum. Anya spürte wie sie hinter ihr unschlüssig im Eingang stehen blieb und darauf wartete dass sie eintreten durfte. Auch wenn Lexa hier mit Anya zusammen lebte, so hatte diese das Training für heute noch nicht als beendet erklärt und solange war es Lexa nicht erlaubt sich auszuruhen. „Komm aus dem Regen, Lexa." Als Anya sich zu Lexa umdrehte, konnte sie sehen wie die sonst so ernsten Gesichtszüge des jungen Mädchens sich zu entspannen schienen. Auch wenn sie sich als angehende Kriegerin niemals beklagen würde, so konnte man ihr die Erleichterung darüber, dass Anya sie für heute von weiteren Aufgaben verschonen würde deutlich an den Augen ablesen. Es fiel Anya zunehmend schwerer, bei dem Anblick den ihre Sekundantin bot, hart zu bleiben und auch ihr Blick wurde etwas weicher. Lexa stand nun zwei Schritte vor ihr und sah sie erwartungsvoll an. Von der Enttäuschung darüber, dass sie ihre Übung nicht erfolgreich beenden konnte, war nichts mehr in ihrem Blick zu lesen. Es war für Anya immer wieder erstaunlich, das Lexas Ehrgeiz eine Aufgabe zu meistern bereits so ausgeprägt war und sie selbst Enttäuschungen schnell überwinden konnte. Bisher hatte sie die Grenze der Belastbarkeit bei Lexa noch nie gänzlich ausgereizt, doch für heute war es genug der Anstrengung. Anya trat einen Schritt näher an Lexa heran und ging etwas in die Knie um ihr direkt in die Augen sehen zu können „Hast du Schmerzen?" während sie Lexa fragte, strich sie ihr mit der Hand ein paar nasse Strähnen ihres dunkelbraunen Haares aus dem Gesicht und suchte selbst nach Anzeichen von Verletzungen. Als Lexa entschlossen den Kopf schüttelte, ließ Anya ihren Blick weiter über die bebenden Schultern ihres Schützlings wandern, erhob sich und legte ihre Hände auf diese. „Trockene Kleidung liegt auf deinem Lager, ich werde uns etwas zu Essen besorgen. Solange wirst du auf das Feuer achtgeben." Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ Anya ihre Unterkunft und ließ Lexa dort alleine zurück.

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Für einen Moment blieb Lexa wie angewurzelt stehen, dann stieg sie aus ihren Stiefeln und streifte das nasse Shirt und die Hose ab. Anya hatte tatsächlich bereits ein Feuer errichtet, welches im Wohnraum vor sich hin knisterte. Plötzlich konnte Lexa es nicht mehr erwarten sich in den wärmenden Schein zu stellen und ihre nassen Kleider über der Schirmabdeckung zu trocknen, welche den Rauch des Feuers über ein Rohr nach draußen leitete. Mit schnellen Schritten eilte sie über den kühlen Metallboden unter ihren Füßen, bis sie eines der weichen Felle zwischen ihren Zehen spüren konnte, die rund um das Feuer verteilt lagen. Schnell hängte sie ihre Kleidung auf, bevor sie sich auf dem Fell niederließ und die Knie ganz nah an ihren Körper heranzog. Der Regen war zu dieser Jahreszeit bereits schon sehr kalt und jetzt wo die Anstrengung des Tages langsam aus ihrem Körper wich, spürte sie die Kälte die sie auf dem Weg nach Tondc gepackt hatte über ihren ganzen Körper wandern. Mit zitternden Fingern, rieb sich Lexa über die eiskalten Arme und dachte darüber nach was gerade geschehen war. Es war alles andere als üblich, dass Anya sich bereits selber um das Feuer im Wohnraum gekümmert hatte und jetzt auch noch durch den Regen lief um Lexa etwas Essbares zu beschaffen, denn diese Dinge zählten eigentlich zu Lexas Aufgaben. Der Gedanke daran, das Anya die Regeln vergaß und sich um Lexa kümmerte, schien sie von innen heraus zu wärmen. Hatte sie beim Training wohlmöglich doch nicht so sehr versagt wie sie es zuvor angenommen hatte? Ihr Blick wanderte zu den gefalteten Kleidungsstücken auf ihrem Schlafplatz direkt gegenüber. Anya schien sich wirklich um sie gesorgt zu haben, auch wenn sie es wohl nie zugeben würde. Diese Erkenntnis ließ das Lächeln auf Lexas Gesicht noch etwas breiter werden.

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Innerlich verfluchte Anya sich dafür, dass sie sich Lexa gegenüber so fürsorglich gezeigt hatte und nun sogar durch den kalten Regen bis zur Vorratskammer von Tondc lief. Lexa war es von klein auf gewohnt sich selber zu versorgen oder eben zu hungern und es war wichtig dass es so blieb, doch nun war es zu spät um wieder umzukehren. Morgen würde Lexa dieser Aufgabe wieder selber nachgehen müssen, doch für heute hatte sie sich eine Pause wohl verdient, dass musste Anya sich eingestehen. Seit sie Lexa zur Sekundantin erwählt hatte, hatte diese sich nicht einmal über ihre Pflichten beklagt, also würde Anya ihr diese Anerkennung zugestehen und heute für sie sorgen. Doch gerade als sie die Vorratskammer betreten und sich ein kleines Abendmahl für sie beide zusammensuchen wollte, hörte sie laute Rufe vom Dorfplatz. Eilig verließ sie die Vorratskammer wieder und lief wieder hinaus in den Regen, den lauten Stimmen entgegen. Bereits von weitem konnte sie sehen, dass ein Reiter sich im schnellen Tempo der Dorfgrenze näherte. Anya eilte zu ihren Kriegern, die sich bereits am Zugang zu Tondc versammelt hatten und jetzt erkannte sie den Reiter. Mit einer beschwichtigen Handbewegung, gab sie das Signal zur Entwarnung als Indra, ebenfalls eine Kriegerin der Trikru, auf dem Dorfplatz zum Stehen kam. Erst jetzt erkannte Anya, das sie noch jemanden vor sich auf dem Pferd hielt und sogleich eilte Gustus Indra entgegen um die deutlich kleinere Gestalt vom Pferd zu heben, so das Indra ebenfalls absteigen konnte. Gleich reichte Anya ihrer Freundin den Arm zur Begrüßung entgegen, den Indra sofort ergriff. „Wir sollten sie nach drinnen bringen, ich weiß nicht wie schwer ihre Verletzungen sind" Indra sah hinüber zu der scheinbar ohnmächtigen Gestalt in Gustus Armen und Anya zögerte keinen Moment um diesem Rat zu folgen. „Gustus, geh vor in meine Unterkunft, ich werde mit Nyko und Indra zu euch stoßen." Gustus nickte knapp und eilte bereits durch den Regen auf Anyas Hütte zu. „Indra, berichte mir was geschehen ist." Mit schnellen Schritten setzte Anya sich in Bewegung um zu Nykos Unterkunft zu gelangen, dicht gefolgt von Indra die mit ihrem Bericht begann. „Reaper. Das Dorf wurde vernichtet. Anya, wir müssen unsere Grenzen gegen diese Bestien sichern, sie dringen immer weiter in unser Gebiet vor. Das Dorf..." Indra brach ab, gerade als sie Nykos Unterkunft erreichten. Doch statt die Hütte zu betreten, drehte Anya sich zu Indra um „Welches Dorf?" Doch noch bevor Indra antworten konnte, ahnte Anya bereits was diese ihre nicht berichten wollte und ohne ein weiteres Wort lief sie zurück zu ihrer Hütte. Indra würde Nyko benachrichtigen, da war sie sich sicher. Für den Moment musste sie sehen wen Indra nach Tondc gebracht hatte, auch wenn sie fürchtete die Antwort bereits zu erkennen. Völlig außer Atem kam sie nach wenigen Augenblicken wieder bei ihrer Unterkunft an und eilte hinein, dabei wäre sie fast gegen Gustus geprallt, der am Eingang auf sie gewartet hatte. Schnell schob sie sich an ihm vorbei und entdeckte sogleich Lexa, die nur mit Unterwäsche bekleidet neben ihrem Schlaflager kniete und der Person darauf vorsichtig mit ein paar feuchten Tüchern das Gesicht reinigte. Trotz des Schmutzes und den darunterliegenden Verletzungen, erkannte Anya das junge Mädchen, welches etwa in Lexas Alter sein musste, sofort. Langsam näherte sie sich Lexa, die sofort ein Stück zurückwich um Anya Platz zu machen, welche sich gleich darauf neben ihren Schützling kniete und das Gesicht ihrer Nichte betrachtete. Sie bemerkte nicht, dass auch Nyko und Indra das Zelt betreten hatten und löste sich erst aus ihrer Starre, als sie Lexas Hand auf ihrer Schulter spürte, die sie zur Seite zog, damit sie Nyko Platz machte. Der Heiler von Tondc machte sich gleich daran das Mädchen vor sich nach Verletzungen zu untersuchen. Das Costia hier bei ihr war konnte nur bedeuten, das ihr Bruder nicht mehr lebte. „Rette sie, Nyko" flüsterte Anya noch, bevor sie an Indra und Gustus vorbei hinaus in den Regen, raus aus Tondc lief.

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