Vier

1.5K 198 36
                                    

Dass Viktor in unsere Klasse ging, änderte nicht viel. Wenn ich morgens zur Schule lief, trödelte ich nach wie vor und rupfte Blätter von den Hecken ab, die ich zu Boden rieseln ließ. Die paar Minuten vor Unterrichtsbeginn wollte ich nicht mit meinen Klassenkameraden verbringen. Mit ihnen hatte ich nicht viel zu tun.

Bisher hatte ich mir nie etwas daraus gemacht.

Doch als ich hörte, wie sie über Viktor lästerten, bekam ich Angst. Was, wenn sie bald genauso über mich reden würden? Nur weil ich die Pausen nicht mit ihnen verbrachte, nicht mit ihnen kicherte?

Ich fasste einen Entschluss, den ich kurz vor den Sommerferien in Tat umsetzte. In der Pause nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und ging zu Luisa in die erste Reihe, wo sie mit ein paar Freundinnen zusammensaß. Sie lachten.

Das laute Hämmern meines Herzens klang in meinen Ohren. Ich könnte einfach weitergehen, so tun, als würde ich nur etwas in den Mülleimer neben der Tür schmeißen wollen.

Und doch blieb ich stehen.

»Hallo, Luisa«, sagte ich leise. Meine Stimme war nicht laut genug, um über das Gelächter hinweg zu klingen und trotzdem verstand Luisa mich.

Auch wenn sie ein wenig überrascht aussah, verzog sie die Lippen zu einem Grinsen, das ihre fehlenden Milchzähne offenbarte. »Hi!«

»Möchtest du ... möchtest du morgen mit zum Baggersee gehen?«, ratterte ich schnell herunter und verhaspelte mich am Ende des Satzes. Dabei war ich ihn in Gedanken unzählige Male durchgegangen. »Und danach können wir zu mir nach Hause gehen und Eis essen.«

Jetzt wurden die anderen ruhiger und musterten mich neugierig. An der Hitze meiner Wangen spürte ich, wie ich bestimmt knallrot wurde. Bisher war ich nie irgendwie aufgefallen, war froh gewesen, wenn mich keiner wahrgenommen hatte.

Luisa sah mich einen Moment lang an. Ich konnte nicht sagen, was in ihr vorging. Ob sie sich in Gedanken über mich lustig machte oder ob sie das gar nicht so schlimm fand.

Dann lächelte sie. »Okay ... warum nicht?«

»Ja?«, fragte ich nach. »Ganz ehrlich?«

»Klar!«, grinste sie und wandte sich wieder den anderen zu. »Habt ihr die neue Serie schon gesehen? Die ist mega cool!«

Ich blieb bei den anderen stehen und auch wenn ich mich nicht an ihren Gesprächen beteiligte, war es, als würde ich dazugehören. Nie hätte ich geglaubt, dass sich das so gut anfühlen würde.

»Ich freu' mich total auf morgen!«, rief Luisa mir hinterher, nachdem es zum Unterricht geklingelt hatte.

Vor Aufregung waren meine Wangen gerötet, als ich mich nochmal umwandte. »Ich mich auch! Das wird toll!«, antwortete ich, ehe ich weiterging. Zurück zu meinem Platz in der letzten Reihe.

»Du bist keine von denen«, hörte ich auf einmal jemanden neben mir zischen. »Also versuch doch nicht etwas zu sein, das du nicht bist.«

Es war Viktor, dessen Stimme ich unter so viel anderen wiedererkennen würde.

Verunsichert hob ich meinen Blick. In seinen kalten Augen lag mehr Verachtung, als ich erwartet hätte. Mehr als ich nachvollziehen konnte. Dabei hatte ich ihm doch gar nichts getan!

»Was meinst du?«, fragte ich leise nach, doch erhielt keine Antwort mehr. Er hatte die Nase schon wieder in sein Buch gesteckt und blätterte mit konzentrierter Miene eine Seite um. Obwohl das Teil schon ganz zerfleddert war, ging er vorsichtig damit um.

»Was will denn der Psycho von dir?«, hakte Luisa nach, der unser Wortwechsel nicht entgangen war.

Ich zuckte nur die Schultern und beeilte mich zu meinem Platz zu kommen. Weg von Viktor und seinen Worten, die mit derselben Härte wie seine Blicke auf mich einprallten. Warum ließ er mich nicht einfach in Ruhe?

ViktorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt