Sieben

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Nervös drehe ich meinen pinken Walkman zwischen den Händen und wechsele alle paar Sekunden den Song. The Unforgiven, weg damit. Genauso mit You Shook Me und November Rain.

Schließlich reiße ich ruckartig die Ohrstöpsel raus und wickele sie um das kleine Gerät. Zerre so fest, dass das Kabel zu reißen droht.

Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht?

Ich hätte zuhause bleiben sollen und zocken, stattdessen sitze ich auf dieser morschen Holzbank. Um mich herum der Friedhof mit seinem seltsam faszinierenden Charme. Mit den verfallenen Grabsteinen und deren Inschriften, die teilweise mit Moos bewachsen sind und kaum noch lesbar.

Eine letzte Erinnerung an längst in Vergessenheit geratene Menschen. Die vielen Heiligenstatuen, Wächter aus vergangenen Zeiten.

Wäre Viktor hier, würde er langsam über den Friedhof laufen und versuchen, all die Inschriften zu entziffern. Würde sich die Geschichten jener Vergessenen vorstellen und sich vollkommen in diesen vergangenen Zeiten verlieren.

Ich beiße auf meinen Fingerknöcheln herum, versuche die Erinnerung an ihn zu verdrängen. Dieser Tag soll Luisa gehören und nicht ihrem Mörder.

In diesem Moment beginnen die Glocken der Kapelle zu läuten. Es ist eine traurige Melodie, die untermalt, wie die großen Flügeltüren aufschwingen und der Pfarrer nach draußen tritt. Ihm folgen die Sargträger, bei denen sich mein Herz schmerzhaft zusammenkrampft, als würden erst sie real werden lassen, was mit Luisa geschehen ist. Zuletzt die Trauergemeinde.

Es sind viele, die wegen Luisa gekommen sind, und sie alle schweigen bedrückt. Annabelle, die mir ein schüchternes Lächeln zuwirft, ist unter ihnen und neben ihr Karina, deren Blick nicht weniger hasserfüllt als am Tag der Verhandlung ist.

Ich senke meine Kopf und sehe auf meine Finger, von denen ich den schwarzen Nagellack wegkratze. Die kleinen Lackstückchen rieseln auf die Pflastersteine, auf denen buntes Laub liegt. Wegzuschauen reicht nicht um mich vor den anderen zu schützen, also ziehe ich mir meine Kapuze über den Kopf.

Sie sollen mich nicht erkennen.

Erst jetzt fallen mir die Abdrücke auf, die meine Zähne hinterlassen haben. Der Schmerz, der in meinen Knöcheln zu fühlen ist.

Der Trauerzug hat sich mittlerweile zu dem geöffneten Grab bewegt. Ich schleiche mich heran, als würde mich so niemand bemerken. Kurz gleitet mein Blick über die vielen Menschen, dann in Richtung der Friedhofsmauer. Dahinter, in fast schon unwirklicher Ferne liegt das Städtchen und wenn man nach rechts schaut, ist dort irgendwo die alte Fabrik, verborgen hinter all den Bäumen.

Hier oben weht ein sanfter Wind, der dennoch die letzte Wärme nicht verdrängen kann.

Der Sommer ist vorbei und doch fühlen wir seine letzten Spuren.

»Warum sind wir traurig, dass wir die Toten verloren haben, wenn wir auch dankbar sein können, dass sie bei uns waren? Denn wer heimkehrt zum Herrn«, erklingt die feste Stimme des Pfarrers, verliert sich irgendwo zwischen den alten Bäumen, die den Friedhof umgeben. Weit hinten kündigt sich der nahende Sonnenuntergang in sanften Farben an, auch er spricht leise von Abschied. Von niemals erfüllten Verheißungen und Geschichten, die nicht mit dem großen Glück, sondern mit verständnislosem Schweigen endeten.

Es ist nicht nur ein Abschied vom Tag, sondern auch ein Abschied vom Sommer, ein Abschied von Luisa.

Ein Abschied, der im selben Atemzug auch einer von Viktor sein wird.

Sein muss.

»Luisa verbrachte viel ihrer Zeit bei der Jugendfeuerwehr. Wenn es darum ging Leben zu retten, war sie ganz vorne mit dabei«, fährt der Pfarrer fort. Irgendwo ist ein unterdrücktes Schluchzen zu hören, das wieder verstummt. Ein anderer zieht die Nase hoch und bekommt von der Frau neben ihm ein Taschentuch gereicht.

Ich bin nur eine stille Beobachterin, fast schon ein Zaungast, niemand, der zu den anderen dazugehört, auch wenn der Tod angeblich eint.

Neben dem Sarg, auf dem aufwendige Blumengestecke liegen, steht ein Foto von Luisa. Die hellbraunen Haare fallen ihr auf die Schultern und die blauen Augen strahlen vor Lachen. Sie sieht hübsch aus, auch wenn ihre Gesichtszüge ein wenig zu markant sind, um eine klassische Schönheit zu sein.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich eine ältere Frau, die ihre Nachbarin anstupst und auf mich deutetet. Ob sie wissen, wer ich bin? Bestimmt.

Ich starre zu Boden, bis der Sarg ins Grab gelassen wird. Der Pfarrer spritzt Weihwasser hinein, begleitet von den Worten: »Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube.«

Nach und nach gehen die Trauernden vor und werfen einen Blick ins offene Grab, oftmals gefolgt von Blütenblättern. Manche bekreuzigen sich, andere stehen nur schweigend da.

Daneben Luisas Eltern in ihrer schwarzen Kleidung, nehmen die Beileidsbekundungen entgegen. Sie lächeln. Selbst hier hinten kann ich erkennen, wie schwer es ihnen fallen muss. Wie gequält diesen Lächeln ist und es letzten Endes nicht schafft, ihren Schmerz zu verbergen. Wie es wohl ist, das eigene Kind so früh zu verlieren?

Ich erinnere mich an das einzige Mal, an dem ich die Mutter von Luisa sah. Es war, als sie mir mit ablehnender Miene die Tür vor der Nase zudrückte.

Damals in diesem heißen Sommer hatte alles begonnen - würde es heute sein Ende finden?

Oder - war es nicht schon längst vorbei?

Unauffällig löse ich mich von der Gruppe und vergrabe meine Hände in den Jackentaschen, während ich den gewundenen Pflasterweg zwischen den Gräbern hinabgehe. Als ich gerade das schmiedeeiserne Tor aufziehe, das ein lautes Quietschen von sich vernehmen lässt, fällt mir ein Junge auf.

Er kommt in meine Richtung und trägt in seinen Händen einen bunten Blumenstrauß. Sein Gang ist so schleppend, dass die tiefe Trauer schon auf die Ferne zu erkennen ist.

Es ist Marko, der Freund von Luisa.

Ich will schnell weitergehen und verhindern, dass er mich anspricht, doch bevor ich die Stufen runter bin, begegnen sich unsere Blicke für einen Moment. Seine Augen sind von dunklen Schatten umrandet und vom vielen Weinen gerötet. Wahrscheinlich hat er wie ich die letzten Nächte kein einziges Auge zugetan.

»Was machst du hier?«, fragt er mit brüchiger Stimme.

»Ich ...« Auch meine ist nur ein Stammeln. »Ich ... wollte mich auch von Luisa verabschieden.«

Sein Blick, mit dem er mich anschaut, ist ausdruckslos, als würde er mich gar nicht wahrnehmen, und gleichzeitig so aufgewühlt, dass ich all seine Gefühle darin erkennen kann. Blanke Verzweiflung, Trauer, die alles unter sich begräbt und nicht zuletzt all das, was er für Luisa empfindet. Das ihn heute zerreißt.

Wie konnte es sein, dass Luisa ein so schlechter Mensch war und sie doch alle liebten?

Ich beschleunige meine Schritte, möchte nur noch weg. Weg vom Friedhof und all seiner Endgültigkeit.

Oder war es am Ende gar nicht so? Sind nicht viel eher Viktor und ich die Bösen?

Der Schotter knirscht unter meinen Füßen, lässt jeden einzelnen Schritt so schwer anfühlen, als würde er unmöglich wollen, dass ich all das hinter mir lasse.

Viktor ... ein Mörder und ich ... nur für mich tat er das.

Jetzt renne ich. Das Knirschen der Kieselsteine verstummt und geht über in das Rauschen des Windes.

Was war das bisschen Mobbing schon gegen einen Mord? Hätte ich nicht viel früher ahnen müssen, wozu Viktor in der Lage war?

Keine Endgültigkeit mehr, nur noch was wäre wenn.

Warum habe ich es nicht geschafft, ihn aufzuhalten?

ViktorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt