Sechs

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»Hey, riecht ihr das?«, kicherte Freja und schnüffelte übertrieben in der Luft herum. Ich schlang meine Finger um die Träger meines Schulranzens, während ich auf die anderen Kinder zuging. Sie standen bei Luisas Platz zusammen. Hoffentlich konnte ich heute mit ihr reden, ihr erklären, dass Mama das gestern gar nicht böse gemeint hatte. Dass das bei uns zuhause nicht immer so war.

»Was denn?«, fragte jemand anderes. Verhaltenes Kichern war zu hören, ich spürte, wie mir immer wieder Blicke zugeworfen wurden.

Freja, die im Schneidersitz auf dem Tisch saß, legte eine wichtige Miene auf. »Es stinkt. Und wisst ihr auch warum?«

Mittlerweile hatte ich die Gruppe erreicht. Ich versuchte mich dazuzustellen, doch ich bekam keinen Platz zwischen ihnen - nur grob einen Ellenbogen in die Rippen gedrückt. Er stammte von Marko, mit dem ich noch nie zuvor etwas zu tun gehabt hatte.

»Sarah stinkt. Weil ihre Alki-Mutter nie ihre Klamotten wäscht!«, verkündete Freja. Sie brach lauthals in Kichern aus und es dauerte nur Sekundenbruchteile, bis die anderen miteinfielen.

Unauffällig versuchte ich, an meinem T-Shirt zu riechen. Es war frisch und gebadet hatte ich gestern Abend auch.

Ich warf Luisa einen hilfesuchenden Blick zu, den sie nicht erwiderte. Stattdessen wedelte sie mit ihrer Hand vor der Nase herum. »Ich kann's bis hier riechen!«

Fassungslos sah ich sie an. Ich konnte nichts dafür, dass der Nachmittag bei mir so dermaßen schief gelaufen war. Ich hatte Luisa doch nichts getan, wollte nur ihre Freundin sein!

»Hast du die Klamotten eigentlich aus der Altkleidersammlung?«, grinste Marko, der mir bedrohlich nahe kam. Er zupfte an meinem T-Shirt herum. Ich wagte es nicht mich zu bewegen, stand wie erstarrt da.

»Bist du doof? Das sind doch Müllsäcke!«, lachte Luisa hysterisch los. Ich sah an meinen Kleidungsstücken herunter, die meine Mutter immer dann kaufte, wenn es gerade etwas im Sonderangebot gab. Meine Jeanshose, die ein wenig zu kurz war, und das gestreifte T-Shirt, dessen Saum ausgefranst war.

»Keine Klamotten!«

Verzweiflung wallte in mir auf, untermalt von dem gehässigen Kichern meiner Mitschüler und ihren Beleidigungen, die schon gar nicht mehr zu mir durchdrangen.

Was sollte ich nur tun? Am liebsten wäre ich nach draußen gestürmt, nur weg von den anderen und nie wieder zurückkehren in die Schule. Doch das ging nicht. Bestimmt bekäme ich dann eine fette Strafe aufgedrückt.

Ich fühlte, wie meine Muskeln zitterten, war aber nicht mehr in der Lage, sie von selbst zu bewegen.

»Spinnt ihr?«, klang auf einmal eine Stimme über die anderen hinweg. Eine Stimme, die ich an ihrem Akzent direkt erkannte. »Hört sofort damit auf!«

Es war eine Forderung, mehr noch: Ein Befehl.

Und doch hielt sich keiner daran. »Nö, niemals. Ist doch selber schuld, die Säuferin!«, krakeelte jemand.

Langsam drehte ich mich um und entdeckte Viktor, der hinter mir ins Klassenzimmer getreten war. Heute waren seine Augen weit entfernt von aller Kälte, zu lodernd war die Wut in ihnen.

»Ihr seid erbärmlich, versteht ihr das? Ihr seid erbärmlich!«, warf er ihnen an den Kopf. Es sah ein bisschen so aus, als wolle er noch viel mehr sagen, doch fände die passenden Worte nicht.

Die Schulklingel zerriss das Gelächter und nur einen Moment später trat unsere Klassenlehrerin ein. »Guten Morgen«, begrüßte sie uns freundlich. »Ab mit euch, auf eure Plätze, wir fangen an.«

Meine Mitschüler verzogen sich zu ihren Stühlen und packten ihre Schulbücher aus, als wäre überhaupt nichts passiert. Nicht so, als hätten sie mit ihren dummen Sprüchen die Scherben zertrampelt, in die meine Welt nach Luisas Besuch zerbrochen war.

»Hopp, hopp, Sarah, das gilt auch für dich. Oder willst du direkt eine Aufgabe an der Tafel lösen?«, fragte meine Lehrerin.

Ich schüttelte eilig mit dem Kopf und ging mit gesenktem Blick nach hinten. Aus dem Augenwinkel sah ich Viktor, der mir ein aufmunterndes Lächeln zuwarf, doch mir fehlte die Kraft, es zu erwidern.

Mit meinem Fahrrad fuhr ich ein paar Tage später zu Luisa. Ich wünschte mir nichts sehnlichster, als mich wieder mit ihr anzufreunden. Dass sie verstehen würde, dass es bei uns zuhause gar nicht so schlimm war wie sie dachte.

Sie lebte in einer durchschnittlichen Gegend, es sah nicht wirklich anders aus als bei uns. Ein paar Einfamilienhäuser, das ein oder andere mit Mietwohnungen und davor Gärten, von denen manche gepflegt waren und andere verwildert.

Es war ihre Mutter, die mir die Tür öffnete. Sie war eine kleine, dickliche Frau mit hochgesteckten, blonden Haaren. »Hallo«, lächelte sie, als sie mich erblickte. »Du möchtest zu Luisa, oder?«

Eifrig nickte ich und zupfte an meinen Haaren herum. Ich hatte sie mir extra zu zwei Zöpfen geflochten und mein schönstes Kleid, das mit dem roten Karomuster und dem Hemdkragen, angezogen.

»Luisa, komm' mal!«, rief die Frau in das Innere des Hauses. »Hier ist ... Wie heißt du noch gleich?«, wandte sie sich an mich.

»Ich bin Sarah.«

Bei meinem Namen verfinsterte sich ihr Blick, Ablehnung tauchte darin auf. »Geh' bitte wieder. Ich möchte nicht, dass meine Tochter bei solchen Leuten ist.«

»Bitte, Frau Ahrens, ich möchte das alles erklären!«, flehte ich sie an, doch sie drückte mir ohne eine weitere Regung die Tür vor der Nase zu.

Ich fing an, absichtlich zu spät zu kommen, nur um meinen Mitschülern und ihren Beleidigungen zu entgehen, doch das half nichts. Sie lachten mich trotzdem aus, wenn gerade kein Lehrer hinsah.

In den Pausen suchte ich Schutz auf der ständig nach Urin stinkenden Schultoilette. Dann saß ich auf dem dreckigen Klodeckel und hatte meine Beine angezogen, damit sie durch den Spalt unten nicht sehen konnten, dass ich hier war. Während ich auf die Kabinenwand mit ihren darauf gekritzelten Sprüchen starrte, versuchte ich mich mit aller Kraft in eine ferne Welt zu wünschen. Ausgerechnet das, was mir früher so leicht gefallen war, gelang mir immer seltener. Zu erdrückend war die Realität.

Einmal begegnete ich Viktor, als ich mich zurück ins Klassenzimmer schleichen wollte.

»Sarah!«, rief er mir hinterher. »Warte mal!«

Ich warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. Die letzten paar Schritte rannte er sogar.

»Das sind Idioten. Hör' nicht auf sie«, sagte er mir eindringlicher Stimme, als er mich erreicht hatte und sich die braunen Haare aus der Stirn strich. »Kannst du mir das versprechen? Das wollen sie nur. Dass du glaubst, was sie sagen. Lass das nicht zu.«

ViktorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt