Der Wald und die Vergangenheit

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Der Krankenwagen traf ein und stellte einen Herzinfarkt der Frau fest.Ich durfte nach Hause gehen, was ich auch sofort tat. Ich stürmte in mein Zimmer und ließ mich aufs Bett fallen. In vollkommener Dunkelheit starrte ich an die Decke.

„Alles okay?" Ich zuckte zusammen und jemand schaltete das Licht ein. Carly stand im Türrahmen und trug bereits ihren Schlafanzug. Sie setzte sich auf meine Bettkante und sah mich mit hochgezogener Braue an. Das tat sie ziemlich häufig. Genau genommen immer, wenn ich lügte oder ihr etwas verschwieg und sie es wusste. Und sie wusste es immer. Ich war eine ziemlich gute Lügnerin, aber Carly erkannte es immer, als könne sie es riechen.

„Ich hab den Leichnam einer alten Frau entdeckt." Sie sah mich schockiert an.

„Bitte was?"

„Die Tür stand offen, ich bin rein und da saß sie. Herzinfarkt."

„Warum bist du zu dem Haus gegangen?" Ich seufzte.

„Ich hab keine Ahnung, Carly, ehrlich."

„Das glaub ich dir" murmelte sie und starrte aus dem Fenster.

„Du hast voll den schönen Ausblick" bemerkte sie und deutete aus demFenster. Ich setzte mich auf, drehte mich um und sah in die Richtung,in die sie zeigte. Ein kühler Wind fegte draußen, aber ansonsten war es eine klare, wolkenlose Nacht mit strahlendem Mond und Ausblickauf die Wipfel der Tannen.

„Ja, das stimmt. Ich mag den Wald." Ich sah wieder zu meiner Schwester.Ihre Miene erhellte sich.

„Danke,dass du mich daran erinnert hast. Mom hat mir vorhin was richtig spannendes erzählt... und gezeigt. Warte kurz hier, ich hol es."

Nicht eine Minute später tauchte sie mit ein paar Bildern in der Hand auf.

„Hier,schau dir das an!" Sie hielt mir die Fotos hin. Ich nahm sie in die Hand.

Das erste Bild zeigte in schwarz-weißer Farbe einen Mann, eine Frau und drei kleine Kinder vor einem Haus stehen. Carly zeigte auf das älteste Kind, das etwa sechs Jahre alt sein musste.

„Das ist Dad" sagte sie strahlend. Wir hatten nicht viele Bilder von unserem Vater, Mom redete nicht gerne über ihn. Sie war noch immer nicht über seinen Tod hinweg, weshalb es uns noch mehr wunderte,dass sie neu geheiratet hatte.

„Siehst du die Bäume da?" fragte Carly und zeigte auf eine kaum erkennbare Ansammlung von Bäumen.

„Na, rate mal welcher Wald das ist." Ich sah sie ungläubig sie. Carly grinste.

Beacon Hills Preservart?"

„Genau."

„Dad hat hier gelebt?"

„Ja, in genau diesem Haus."

„War das Zufall?"

„Mom behauptet ja, aber das kaufe ich ihr nicht ab."

„Als würden wir durch ganz Amerika reisen, nur um mehr Platz für einBaby zu haben." Ich verschränkte die Beine.

„Lächerlich"sprach Carly mir zu.

„Hier das nächste!" Sie blätterte um. Das nächste Foto zeigte einen blonden Jungen, der seine Arme um zwei jüngere Mädchen geschlungen hatte und in die Kamera grinste. Die Farbe war blass, aber seine grünen Augen schienen zu leuchten.

„Lizzie!"Carly fuhr erschrocken zusammen, riss mir das Bild aus der Hand und beäugte es genauer. Dann hielt sie es neben meinen Kopf und ihre Blicke huschten hin und her.

„Die hier", sie deutete auf das linke Mädchen, „sieht original aus wie du." Ich nahm ihr das Foto aus der Hand.

„Zeig her!" forderte ich und begutachtete das Mädchen. Sie hatte dunkelblonde, zu einem Pferdeschwanz gebundenen, Locken und ein sarkastisches Grinsen. Sie trug so 80er, 90er Klamotten und hatte mein Gesicht. Es war nicht diese verblüffende Ähnlichkeit, die Carly und Ich zu unserem Dad hatten, es war einfach mein Gesicht.Genau mein Gesicht. Alles war gleich. Carly riss mir das Bild wieder aus der Hand.

Dieses Mal sah sie sich die Rückseite an.

Marina,David & Eveline Foster – Juni 1993"las sie vor.

„Zwei Jahre, bevor ich geboren wurde" murmelte ich.

„Das sind Dads Schwestern, unsere Tanten."

„Meinst du, sie leben noch in Beacon Hills?" fragte ich. Carly zuckte mit den Schultern.

„Gut möglich. Warum sollte man hier auch wegziehen?" Es hätte Ironie sein können, aber sie schien das komplett ernst zu meinen. Sie mochte diese Stadt und leider musste ich zugeben, dass ich das auch tat. Ich blätterte zum nächsten Bild um.

Es zeigte Dad mit zwei älteren Frauen und einem Mann. Ich hielt das Bild so, dass Carly sehen konnte, was auf der Rückseite stand.

David zieht um – Wir wünschen alles Gute! Mom, Dad & Tante Lor"las sie vor.

„Tante Lor wäre dementsprechend Grandmas oder Grandpas Schwester."

„Grandma!"

„Woher willst du das wissen?"

„Spätestens bei diesem Foto sollte dir klar werden, dass alle in unserer gottverdammten Familie gleich aussehen." Ich sah wieder auf das Bild.

Tante Lor und Grandma sahen aus wie Zwillinge, mit dem Unterschied, dass sie andere Haarfarben hatten, und ähnelten beide verblüffend ihrem Sohn und Neffen David. Grandpa sah Dad nicht so ähnlich. Obwohl die Nase von ihm kommen könnte, oder auch-

„Wie hübsch" flüsterte Carly. Sie hielt das nächste Bild in der Hand.Dieses Mal schnappte ich es ihr weg. Eine jüngere Version meiner Mom stand mit weißem Kleid und Brautschleier vor irgendeiner Kirche und ließ sich freudenstrahlend von Dad auf die Wange küssen.

„Carly,was machst du denn so spät noch hier? Ab ins Bett, morgen ist wieder Schule." Mom stand im Türrahmen und verschränkte die Arme.

Carly stand murrend auf, sammelte die Bilder zusammen und schlurfte aus dem Zimmer. Bei der Tür nahm Mom ihr allerdings noch die Fotos ab.

„Hey!"beschwerte sie sich.

„Das sind immer noch meine, CJ, und jetzt schlaf gut." Als Carly weg war, sah ich Mom stirnrunzelnd an.

„Du nennst sie CJ?"

Mom seufzte nur und setzte sich zu mir aufs Bett. Ich dachte an das Hochzeitsfoto. Sie war alt geworden. Ihre Falten fielen mir jetzt noch stärker auf und sie wirkte müde. Meine Sicht war verschwommen,ich wollte schlafen.

„Dir geht es aber gut hier, oder?" fragte sie mit ernster Miene. Ich nickte.

„Sicher?Du fühlst dich wohl? Alles ist normal für dich?"

„Leben unsere Tanten noch? Und unsere Großeltern?"

Mom blickte auf die Fotos in ihrer Hand, dann sah sie auf und lächelte.

„Ich weiß es nicht, mein Schatz, ich habe sie nur ein paar Mal gesehen und nach dem Tod eures Vaters ist der Kontakt abgebrochen." Sie stand auf und legte die Hände auf ihren runden Bauch.

„Denk nicht so viel darüber nach, schlaf lieber. Morgen wird ein langer Tag."

„Wir gehen Möbel einkaufen?"

„Für das Baby, das wird sicher schön." Das wird sicher vieles, aber ganz bestimmt nicht schön.

„Das geht nicht, ich hab mich morgen schon mit einer neuen Freundin zum Lernen verabredet."

„Oh,na das ist ja toll. Ich freu mich, dass ihr beide euch schon so schnell intigriert habt." Sie lächelte, küsste meine Stirn und verließ mit einem Gute-Nacht-Gruß das Zimmer. Ich zog mich um und kuschelte mich in mein Bett. Ich brauchte für morgen eine Verabredung. 

Die Banshee SchwesternWhere stories live. Discover now