Wattpad Original
Es gibt 4 weitere kostenlose Teile

1 - Der Schnee

23.2K 817 305
                                    

Es war einer der seltenen Tage im Winter, an dem das Wetter der Jahreszeit gerecht wurde. In Filmen sah Schnee immer so romantisch aus. Sachte fallen die Flocken zu Boden, während das Liebespaar, das wie aus dem Modekatalog angezogen ist, sich in den Armen liegt und schmachtend in die Augen sieht, ehe es dann im finalen Kuss endet. In der Realität peitschte mir eine nasskalte Schneewand ins Gesicht, die mein Make-up verschmierte und mir somit den Waschbärenlook verlieh. Meine Finger warteten derweil vergeblich auf Blutzufuhr, was auch dran lag, dass die Einkaufstüten mit jedem Meter ein Kilogramm zuzunehmen schienen. Meine Füße badeten derweil im Eiswasser, da meine Schuhe schon nach der ersten Straßenkreuzungen ihren Imprägnierschutz aufgegeben hatten. Ich hatte definitiv schon bessere Tage in meinem Leben gehabt und die Zeiten, in denen ich mich euphorisch über Schnee gefreut hatte, lagen auch schon Jahre zurück. Mittlerweile war ich erwachsen genug, um zu wissen, dass aus der weißen Pracht bald ekliger Matsch werden würde.

Endlich erkannte ich hinter den Schneeflockenwirbeln die Nummer 5 an der blauen Hauswand eines Viergeschosses.

Mit meinem Ellenbogen betätigte ich die Klingel und stieß beim Surren die Tür mit dem Rücken auf. Ein Grund, warum ich für meine Oma immer die Einkäufe tätigte, war die Abwesenheit eines Fahrstuhles. Insbesondere für eine 82-jährige Dame konnten zwei Stockwerke schon mal dem Aufstieg des Mount Everest gleichen. So wie ich momentan aussah, könnte man vermutlich ebenfalls denken, dass ich gerade vom höchsten Berg der Welt kam. Ich meinen Haaren klebten Eiskristalle und ich war mir sicher, dass meine Wangen röter als die von Pikachu waren.

„Schatz, du siehst ja ganz durchgefroren aus!", bemerkte Omi als sie mich sah. Wie immer wartete sie schon an der offenen Tür auf mich. Sie drückte mir flüchtig einen Kuss auf die Wange und nahm mir eine Tüte mit ihren Einkäufen ab. „Komm schnell rein! Ich hole dir warme Sachen und mache dir einen Tee."

Sofort humpelte sie mit ihrem künstlichen Hüftgelenk zurück in die Wohnung. Oma Trude war wirklich eine Oma, wie man sie aus dem Bilderbuch kannte. Ihre krausen, grauen Haare hatte sie sich zu einem Dutt zusammengebunden. Ihre Beinbehaarung war von einer halbdurchsichtigen Strumpfhose nicht komplett verdeckt und ihr Blumenkleid fiel bis knapp über die Knie. Tiefe Falten im Gesicht ließen erahnen, dass ihr Leben nicht nur aus Zuckerschlecken bestanden hatte.

Kaum hatte ich ihre kleine Zwei-Zimmer-Wohnung betreten, durchflutete mich ein angenehmes Gefühl der Wärme. Meine Haut begann zu kribbeln, als begännen Ameisen dort ihr Hauptquartier zu bauen. Neben der Wärme erreichte mich aber auch der typische Geruch meiner Oma aus alten Keksen, billigem Parfum und einem Hauch von Pfefferminze.

Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und brachte die restlichen Einkäufe in die Küche, während Oma schon Wasser aufsetzte. Meine nassen Füße hinterließen Spuren auf dem dunklen Teppich.

„Früchtetee?", erkundigte Oma sich bei mir und holte meine Teddytasse aus dem Schrank, die ich schon seit meinem 5. Geburtstag von ihr vorgesetzt bekam.

„Ja, hört sich gut an", murmelte ich und hauchte warme Luft zwischen meine Handflächen, um diese dann aneinander zu reiben.

Dann griff ich nach dem Eisbergsalat, der ganz Gefahr lief, aus der Tüte zu fallen. Doch eine Hand legte sich auf meine Schulter.

„Lass! Ich mache das schon. Wärm dich erst einmal auf und setz dich."

„Aber–"

„Kein Aber! Ich bin vielleicht alt und habe einen schwabbeligen Körper, aber ich schaffe es noch, meine Einkäufe in den Kühlschrank zu hören", ließ Oma mich mit einem sanften Lächeln wissen. Sie verwies auf den Holzstuhl direkt an der Heizung. „Na los! Setz dich!"

Da durch meine Adern mittlerweile Sorbet statt Blut floss, nahm ich das Angebot dankend an.

„Es hört gar nicht mehr auf zu schneien", bemerkte Oma und sah zu dem Fenster, wo die Schneeflocken einen wilden Krieg zu führen schienen. Nachdenklich nickte ich und sah zu, wie eine fette Flocke gegen die Scheibe klatschte, dort kleben blieb und dann langsam schmolz.

Vor meiner ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt