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2 - Die Taschenuhr

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Über Nacht hatte es ununterbrochen weitergeschneit. Ich musste zugeben, dass mir diese Puderzuckeroptik wirklich gut gefiel. Solche Schneelandschaften existierten also auch in Wirklichkeit und nicht nur auf weihnachtlichen Keksdosen und in der Coca Cola-Werbung.

„Kind, du bringst mich noch mal ins Grab! Warum ziehst du bei 5 Grad minus diese Hose an? Das ist nicht das Wetter für eine Kniebelüftungsanlage!"

Meine Mutter war noch nie ein Fan von zerrissenen Hosen gewesen. Meine Generation hatte diesbezüglich jedoch eine andere Meinung.

„Reg dich ab! Ich geh zwei Minuten zum Bus, fahre damit zehn Minuten und gehe dann zwei Minuten zum Archiv. Den Rest des Tages bin ich drinnen. Es sind nur vier Minuten. Wo ist also das Problem?"

Ich sah Mama an, dass sie keine Lust auf eine Diskussion hatte. Wir hatten das Thema eh schon oft genug durchgekaut und auch ein Wiederkäuer schluckt eben irgendwann mal runter.

„Du holst dir nochmal den Tod weg!"

„Jaja", murmelte ich noch in meinen dicken Schal hinein und stapfte dann nach draußen in den Schnee.

Es war dunkel, doch die Laternen erlaubten mir einen Blick auf die schneeverschneiten Straßen.

Irgendwie wirkte alles ruhiger als sonst und es lag dieser ganz besondere Geruch von frisch gefallenem Schnee in der Luft. Ich atmete tief ein und stieß eine kleine Dampfwolke wieder aus.

Herrlich.

Matsch hin oder her: Eigentlich war Schnee doch ganz cool.

Ein paar Flocken konnten immer noch den Wolken entfliehen und schwebten wie Federn zu Boden.

Ich ging zum Auto meiner Mutter und malte einen Smiley auf ihre Heckscheibe. Der Schnee war locker und leicht.

„Ida!", hörte ich meine Mutter durch das offene Küchenfenster rufen. „Du weißt, dass du das nicht tun sollst. Das zerkratzt die Scheibe!"

Mama hatte schon immer gewusst, wie sie sich ideal als Spaßbremse in Szene setzen konnte.

„Ohjaa, die fiesen Schneeflocken mit ihren Reißzähnen und messerscharfen Krallen. Da muss man aufpassen", rief ich zurück.

„Fräulein!", zischte Mama.

Ich schmunzelte nur beim Anblick meines Smileys und machte mich dann auf den Weg.

Ich hatte die Bushaltestelle fast erreicht, als mich etwas Hartes am Rücken traf.

„Hey", rief ich und drehte mich um.

Sophia stand grinsend da und formte bereits den nächsten Schneeball. Ihre wilde, schwarze Lockenmähne hatte sie vergeblich versucht unter ihre Mütze zu quetschen. An den Seiten quollen ihre Haare in alle Richtungen und man musste befürchten, dass ihre Mütze gleich durch die Sprungkraft der Locken in den Himmel katapultiert wurde.

Ihre Eltern kamen aus Ghana, was bei Sophia schon von klein auf dazu geführt hatte, dass sie bei Minustemperaturen angezogen war wie ein Forscher auf Nordpolexpedition. Das hatte sich bei ihr bis heute nicht geändert.

Ehe ich einen Schneeball formen konnte, hatte sie mich bereits mit dem zweiten getroffen.

Dann kam sie auf mich zu und erduldete es, dass ich ihr eine Fuhre der weißen Pracht direkt ins Gesicht drückte. Da sie nie Make-up trug, konnte sie mit den Folgen leben.

Wir umarmten uns lachend, wobei sie es sich nicht nehmen ließ mir Schnee in den Nacken zu stecken. Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken.

„HEY!"

Vor meiner ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt