Madame Geraldine,
es war schön, Sie wieder zu sehen. Und nun - nach all der Zeit - schaffe ich es dann doch, Ihnen endlich einen Brief zukommen zu lassen! Ihr blaues Tuch gefällt mir wirklich sehr. Ich hätte niemals gedacht, dass Sie Mode so tragen würden!
Schade, dass wir nicht mehr Zeit zum Reden gehabt haben. Ich hatte ja so viele Fragen - so viele Gedanken, die ich so gerne mit Ihnen teilen würde. Ach, Madame Geraldine.
Wie geht es Ihren Kindern, Sie hatten ja eine Tochter und einen Sohn, wenn ich mich richtig erinnere, nicht?
Das Leben ist merkwürdig Madame Geraldine.
Alleine die Tatsache, wie wir alle leben. Welches Glück wir haben, dass wir uns begegnet sind. Ich habe so viel zu erzählen und doch habe ich immer Angst, zu sprechen. Ist das ein Widerspruch? Ich weiß es nicht. Ich will reden und reden, aber hat es denn Wert - das, was ich sage? Hat es einen Sinn, will mir jemand zuhören?
Es geht dabei ja nicht um Sie, oder um wildfremde Personen, denen man auf der Straße begegnet und die Blicke, die einen dann treffen. Es geht dabei um meine eigene, kleine Familie. Ich habe das Gefühl, sie hören mir nicht zu. Sie wollen mich nicht verstehen - sie wollen mich nicht sehen und mich nicht anerkennen.
Ich bin achtzehn Jahre alt, Madame Geraldine. Ich bin achtzehn Jahre und nehme Tabletten. Es sind Tabletten gegen die unendliche Traurigkeit, die nicht nur mich, sondern so viele andere Menschen auf dieser Welt trifft. Es macht mich so fertig.
Es macht mich so fertig, dass einfach niemand mich verstehen und sehen will. Man will mir nicht zu hören - ich habe so viel zu erzählen, wenn man mir doch nur die richtigen Fragen stellen würde! Ich bin so verzweifelt, durchlebe Tag für Tag Erinnerungen, die mich auf den Boden schmeißen und die Anerkennung besteht dann darin, es zu akzeptieren, wenn ich sage: "Es geht mir gut"?
Ich kann so nicht mehr, Madame Geraldine. Ich kann es nicht. Es ist so viel Leid in mir und wenn ich darüber spreche, dann denkt man immer, alles wäre eine Jugendsünde. Als würde es jedem so gehen - aber nein, so kann es nicht jedem gehen. Wie kann es jedem so gehen, wenn man mich nicht beachtet.
Ich habe das Gefühl in der ewigen Verdammnis der unbeachteten, zweiten Person zu bleiben. Ich habe das Gefühl, dass sich nichts in diesem Leben für mich verändern wird und mich niemand versteht. Ich möchte weinen, ich will alles rauslassen - aber ich kann es nicht. Ich bin meine eigene, selbst erschaffte Puppe der Vollkommenheit. Es ist der Hass auf mich, es ist die Liebe zum Hass auf mich selbst, die mich zu meiner Unfähigkeit führt, offen zu sein.
Ich kann es nicht - ich bin der Fehler.
In meiner ersten Abhandlung gibt es ein Zitat, welches ich noch einmal hervorheben möchte.
»Wir haben doch alle die kleine Last auf unseren Schultern, die wir mit uns tragen und uns manchmal zu Boden zieht. Was bringt es also, sie mit jemanden zu teilen und es noch schwerer zu machen?«
Ich habe das Gefühl, dass dieser Ausschnitt mein Leben bestimmt. Bin ich dazu verdammt mit diesem Mal der Leere mein Leben zu führen? Warum ist das mein Schicksal? Warum muss ich so viel kämpfen?
Ich bin so schwach - und doch so stark. Niemand sieht das, aber ich fühle es. Wirklich! Ich fühle, dass ich stark bin. Wenn man so viel erlebt, und immer noch stehen kann, dann ist man - in meinen Augen - einfach stark genug in dieser Welt.
Und wenn man dann steht, dann begibt man sich sowieso wieder in die Höhen, in der man gar nicht danach gefragt wird, ob es einem Gut oder Schlecht geht. Wissen Sie das? Es wird einfach übersehen, und man wird - tagtäglich wieder in die Knie gezwungen. Tagtäglich, Woche für Woche und Jahr für Jahr. Soll so mein Leben enden? Ist das hier der Höhepunkt?
Ich habe so viel Angst Madame Geraldine. So viel unglaubliche Angst - aber ich kann es mit niemandem teilen, weil es nur zu einem Kampf der Würdelosigkeit kommt. Wer hat es in seinem Leben denn schlimmer? Das vergewaltigte Mädchen oder ich? Kann ich nicht einfach glücklich sein mit dem, was ich habe?
Dafür hasse ich mich so sehr, so einen tiefen Hass empfinde ich. Es ist ein Hass der Leere, der Einsamkeit und der Erinnerungen. Ich will es nicht wissen! Ich will nicht wissen, was passiert ist. Ich will nicht mehr so leben, ich kann es nicht. Es ist so viel Verzweiflung, die gerade aus mir spricht. Kein Wunder, ich habe gerade einer meiner Rückschläge erlebt.
Sie haben sich bestimmt über einen philosophischen Brief gefreut aber stattdessen kommt nun so einer, ein Brief der über das jämmerliche Leid eines kleinen Mannes berichtet - statt über die großen Heldentaten, die er bewundert und denen er nacheifert. Warum bin ich nicht einfach still? Ich schreibe wohl wieder zu viel. Es ist zu viel wirres Zeug, welches in meinem Kopf umher spukt.
Geht das Leben aufwärts? Kann ich mich bald im Spiegel betrachten, ohne Tränen in den Augen zu haben? Kann ich in den Spiegel blicken und mich sehen? Endlich mich, wie ich mich mir selber vorstelle?
Ich ziehe immer so gerne schwarz an, Madame Geraldine. Das Schwarz beschützt mich, besser als jeder andere, der es probiert hat. Das Schwarze lässt mich kalt wirken, leer, einsam. Es beschützt meine eigene Kälte, meine eigene Leere und meine eigene Einsamkeit. Es ist wie ein Mantel, welcher sich um die Tiefen Narben der Erinnerung legt. Schwarz ist so Vollkommen.
Auf bessere Tage, Madame Geraldine. Auf bessere Tage.
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Briefe eines Anderen
PoetryDer Brief eines Anderen, adressiert an Madame Geraldine. Eine nachdenkliche Geschichte über das Leben.