1. Kapitel

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"Ich bin wieder da, Momo", flüsterte ich, während ich das schrecklich kahle Krankenzimmer betrat. Es drückte meine Stimmung mehr runter, als sie sowieso schon war. Die kahlen Wände, die weiße Farbe, das einzige, das ein einigermaßen schönes Stimmungsbild abgab, waren die Blumen, die ich ihm jede Woche aufs neue mitbrachte. "Heute hab ich mal Rosen mitgebracht, hoffe du magst sie." Ohne eine Antwort zu bekommen, lief ich auf das Bett zu, holte die alten Nelken aus der Vase und stellte die neuen Rosen hinein. Dann legte ich die Nelken vorsichtig in meine Tasche. Diese legte ich nun auf dem Boden ab und schob einen Stuhl zum Bett.

"Du bist noch immer nicht aufgewacht, wie ich sehe." Wieder keine Antwort. Ich lächelte leicht auf diese Reaktion, jedoch eher um meine Tränen zu verhindern, als fröhlich zu wirken.

"Wir haben heute in der Schule schon wieder das selbe Buch in Literatur gehabt, das hängt mir langsam zum Hals raus! Und dann auch noch zwei Stunden lang, weil wir kein Japanisch hatten. Ich hab genug von Schule, ich mach jetzt einfach blau und bleibe zu Hause, so einfach geht das."

Was das werden sollte, dass ich mit einer ohnmächtigen Person rede? Das war meine Tradition, wenn ich hier zu Besuch war. Jedes Mal stellte ich mir vor, wie er über meine Erzählungen lachte und über seinen Tag redet.

Aber leider war das nicht mehr so. Er lag bereits zwei Monate im Koma, nach einem Unfall mit dem Schulbus. Eigentlich hätte ich in genau dem selbem Bus sitzen sollen, aber mein Schicksal mochte mich wohl, mehr oder weniger.

Genau an diesem Tag war ich krank und konnte nicht in die Schule. Umso mehr war ich entsetzt, als ich davon hörte, dass der Schulbus auf einer glatten Straße ins Schleudern kam und einige Meter weiter umkippte.

Immer wieder machte ich mir Gedanken, dass ich nun ebenfalls unter den Opfern sein könnte, dass ich hier nicht sitzen würde und darauf warten würde, dass er aufwacht. Dann hätte vielleicht jemand anders darauf gewartet, dass ich aufwache.

"Bitte lass mich nicht alleine", flüsterte ich kaum hörbar und nahm seine Hand in meine, streichelte vorsichtig über sie. Der Schmerz war unerträglich. Wir waren jeden Tag zusammen, hatten Spaß, lebten unser Leben. Und dann so etwas.

"Gott ist ungerecht", hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme neben mir. Erschrocken sah ich zu meiner Rechten und erblickte den Kapitän des Volleyballteams der Nekoma, Kuroo. Seine Haare waren in den letzten Tagen immer schlimmer geworden, wo sie doch bereits wie frisch aus dem Bett aussahen. "Hab gar nicht mitbekommen, dass du rein gekommen bist."

Er lachte und setzte sich an einen Stuhl an den Tisch in der Ecke des Raumes. "Bin ich auch nicht, bin durchs Fenster gekommen, weißt du?" Ich lachte, ließ Momos Hand los, zog die alten Nelken aus meiner Tasche. "Bitte", sagte ich und streckte Kuroo die Blumen entgegen. "Danke." Er nahm sie und legte sie auf den Tisch neben sich.

"Haben die Ärzte schon etwas neues zu sagen?" Ich schüttelte den Kopf. "Nein." Meine Finger verkrampften sich ineinander und in mir breitete sich wieder die Wut an diesen Ort aus.

"Sie meinten, sie haben gerade zu viele Notfälle rein bekommen. Jetzt behandeln sie erstmal die ganzen Patienten, die es benötigen."

Ich senkte den Blick, während Kuroo entsetzt auf sprang. "Na ja, sie sagten auch sie könnten ja sowieso nichts tun im Moment." Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie er sich langsam wieder setzte. "Verdammte Ärzte", zischte er und verschränkte die Arme vor der Brust. "Sei froh, dass sie ihn überhaupt hier behalten." Dazu wusste er wohl nichts mehr zu sagen, denn er verstummte. "Leben ist doch was komisches oder?", fragte ich, bekam dadurch die Aufmerksamkeit von Kuroo.

"Vor einigen Monaten konnte ich mein Glück selbst nicht fassen. Ich hatte zum ersten Mal in der ganzen Highschool richtig gute Noten, habe zwei beste Freundinnen gefunden und kann endlich an einem Musikwettbewerb teilnehmen. Und das schönste, die Person, die ich schon seit dem ersten Highschooljahr über alles liebe, hat mir seine ehrlichen Gefühle offenbart und bin mit ihm zusammen. Ich war glücklich, dachte ich hab es endlich geschafft. Geschafft mein Leben auf die Reihe zu bekommen. Jetzt bin ich hier, stehe kurz vorm Selbstmord."

Ich atmete tief durch. Ich hatte es ihm versprochen, nicht so zu denken. Dennoch tat ich es. Verdammt, was war ich eigentlich für eine schlechte Freundin, die nicht mal ihre Versprechen halten konnte?

"In zwei Monaten sind die Vorrunden für den Musikwettbewerb. Kommst du mit, Kuroo?", fragte ich, jedoch weniger weil es mich interessierte, eher um mich vom Weinen abzuhalten. "Klar doch. Und er wird ganz sicher auch mitkommen", meinte er und zeigte dabei auf den schlafenden Jungen im Bett. "Das wäre neben unserem Zusammenkommen das schönste, was mir in meinem Leben passiert wäre. Hoffen wir mal, dass es auch so eintritt."

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ja, das wäre wirklich wunderschön gewesen.

Liebe um zu lebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt