Die ganze Geschichte beginnt an meinem ersten Schultag nach den Winterferien. Die Geschichte dort starten zu lassen, ist wahrscheinlich ziemlich seltsam, denn unsere Schule war meiner Meinung nach immer die universelle Definition für Langeweile und Leistungsdruckbedingte Depressionen und Unmut. Wieso also sollte ich die Geschichte, die ich erzählen will, dort beginnen lassen? Nun, vielleicht eben weil die Schule ein so langweiliger Ort war, weswegen kaum jemand von uns die Veränderungen, die ich in den nächsten Tagen und Wochen ereigneten, bemerkte.
Wie auch immer. Meine Geschichte begann im Geschichtsunterricht. Ich saß bereits mir den anderen Schülern meines Kurses im Kursraum und wartete auf den Lehrer. Es hatte bereits geklingelt, was hieß, dass er zu spät kam. Dies war ziemlich untypisch für Herrn Finkel, der oft bereits in der Pause den Kursraum vorbereitete, um jede einzelne Minute der Unterrichtsstunde ausnutzen zu können. Niemand von uns hatte bisher erlebt, dass er zu spät zum Unterricht erschien und dementsprechend genossen wir jede einzelne Minute ohne ihn. Die anderen Schüler unterhielten sich jeweils in kleinen Grüppchen, sodass im Klassenraum ein relativ prägnanter, aber dennoch nicht störender Geräuschpegel herrschte. Ich selbst zeichnete irgendwelche Kreise, die sich mit einigen Punkten und Mustern zu einem relativ schönen Muster verbanden. Dass es schön aussah, war nicht unbedingt mein Ziel, meine Hände wollten bloß irgendetwas zu tun haben. Außerdem wusste ich nicht recht, ob und wie ich mit anderen eine Unterhaltung beginnen sollte, aber ich wollte auch nicht tatenlos rumsitzen, die anderen beobachten und wie eine Person aussehen, die keine Freunde hatte. Ich hatte ja auch Freunde- nur nicht in diesem Kurs. Klar, die meisten hier waren relativ nett, einige sahen sogar dieselben Serien und Filme wie ich, hörten dieselbe Musik oder teilten meine Liebe zu Büchern, aber ich selbst war zu schüchtern, um von selbst Unterhaltungen mit ihnen zu beginnen. Ich verband gerade einen grünen mit einem roten Kreis, als Lena, meine Sitznachbarin mich an der Schulter antippte. Ich sah hoch und sie an. "Hm..?" "Wie geht's?", fragte sie. Verwirrt sah ich sie an, sie lächelte offen. Ein kurzer Blick an ihr vorbei verriet mir, dass Hannah, diejenige, die rechts von ihr saß, Lena den Rücken zugewandt hatte, um mit anderen Mädchen zu sprechen. Achso. Ich war also Lückenfüller. Es störte mich nicht wirklich, aber ich war froh zu wissen, wieso Lena plötzlich mit mir sprach. "Ähm... gut.", antwortete ich. Gleich darauf bereute ich es, da ich dadurch es kaum ermöglichen würde, ein echtes Gespräch mit Lena zu beginnen. Schließlich konnte man auf 'Ähm... gut' nicht so viel erwidern. "Und dir?", schob ich deswegen schnell hinterher. "Auch gut." Das war also die Rache. Lena wandte den Blick von mir ab und sah durch den Kursraum zu Mark rüber, der dort saß, und gerade die Unterhaltung von zwei weiteren Jungen beobachtete, ohne jedoch dabei besonders interessiert zu wirken. Lena und Mark waren beste Freunde. Ich hatte mich sogar schon mal gefragt, ob die beiden nicht doch in einer Beziehung waren, aber ich wollte sie nicht fragen, und letztendlich war es mir auch egal. Mark und Lena haben früher am anderen Ende der Klasse nebeneinander gesessen, aber anscheinend war Herr Finkel der Meinung gewesen, dass sie und Mark zu "abgelenkt voneinander" waren, sodass er Lena von Mark weg und neben mich setzte. Das Ganze war keine Große Sache gewesen, schließlich passierte sowas relativ häufig in seinem Unterricht, aber ich konnte oft sehen, wie Lena zu Mark sah, als würde sie sich jetzt wünschen, neben ihm zu sitzen. Jetzt war ihr Blick aber nicht in dieser sehnsüchtigen Art wie sonst, sondern irgendwie merkwürdig. Auch fiel mir jetzt auf, dass Mark ihren Blick gar nicht erwiderte wie sonst. "Habt ihr euch gestritten?", fragte ich. "Was?", entgegnete sie verwirrt. "Ach, nein. Nein... Aber irgendwie ist er komisch heute." "Inwiefern?", hakte ich neugierig nach. "Ich weiß nicht", sagte sie. "Irgendwie hat er heute schlechte Laune. Als würde es ihm nicht gut gehen. Eben in der Pause war er auch so still." "Vielleicht hat er Stress in der Schule, oder mit seinen Eltern?", gab ich leicht ratlos zurück. Lena sah mich nachdenklich an. "Ja, bestimmt ist es das.", sagte sie, doch sie selbst klang wenig überzeugt davon. "Ich frage ihn gleich mal. Oder ich schreibe ihm nachher."
Herr Finkel kam letztendlich fast eine Viertelstunde zu spät. Im Schlepptau hatte er einen Jungen, den ich an dieser Schule noch nie gesehen hatte. Ein Blick auf die anderen Schüler, die ihn wie ich neugierig musterten, verriet mir, dass sie alle ihn an dieser Schule noch nie gesehen hatten. Er war der sprichwörtliche Neue im Kurs. "Guten Morgen Schüler", sagte Herr Finkel, um die Schüler, die seine Anwesenheit noch nicht bemerkt hatten, und immer noch in Unterhaltungen mit anderen vertieft waren, davon zu informieren, dass er den Unterricht gerne beginnen würde. Die Schüler beendeten ihre Gespräche abrupt und sahen nach vorne. "Guten Morgen Herr Finkel.", erwiderten wir in dem üblichen zombieartigen Sprechchor. Der Junge, der noch immer neben Herrn Finkel stand, lächelte amüsiert. Ich betrachtete ihn genauer. Er hatte kürzere, schwarze Haare, die sein relativ blasses Gesicht einrahmten. Seine Augen waren blassgrün und besaßen einen relativ dunklen Rand, der ihnen eine faszinierende Tiefe verlieh. Er war relativ groß, Herrn Finkel überragte er fast um einen Kopf -obwohl das keine Leistung war, da Herr Finkel selbst nur etwa 1,60 cm groß war, neben seiner Strenge und seinem grimmigen Gesichtsausdruck der Grund, wieso wir ihn heimlich auf den Spitznamen Napoleon getauft hatten-, trotzdem war der Junge verglichen mit den anderen Jungs aus dem Kurs eher durchschnittlich groß.
"Also", begann Herr Finkel mit seiner typischen, hohen und nasalen Stimme. "So wie ich euch kenne, seid ihr aufmerksam genug, sodass ihr bereits bemerkt habt, dass ihr einen neuen Mitschüler habt." Mit seinem Zeigefinger deutete er auf den Jungen. "Das Alex Sullivan. Und nebenbei auch der Grund, wieso ich zu spät gekommen bin." Einige verdrehten die Augen, Herr Finkel konnte seine zynischen Kommentare einfach nicht lassen. Der Junge reagierte nicht darauf, sondern lächelte nur. Er schien nicht besonders nervös, sondern sogar relativ selbstsicher. "Alex kommt aus...", fuhr Herr Finkel fort, doch wahrscheinlich hatte er, als Frau Mittermaier, unsere Rektorin Alex unter seine Fittiche gegeben hat nicht aufgepasst, denn er hielt inne und sah Alex fragend an. "London", kam dieser ihm zur Hilfe. "Das liegt in England, Großbritannien." Einige aus dem Kurs lachten nervös, schließlich hatte noch niemand sich getraut, Herrn Finkel auf diese Weise bloßzustellen, doch lief vor Wut über diese "Unverschämtheit", wie er es sicher gleich in einem seiner bekannten Wutanfälle nennen würde, rot an. "Danke, das weiß ich auch selbst.", sagte er, seine Stimme war gefährlich leise. "Wie auch immer. Willst du dem Kurs irgendetwas über dich erzählen, bevor wir zum eigentlichen Unterricht übergehen?" Dabei betonte er die letzten Worte seiner Frage immer mehr, wie, um ihm verständlich zu machen, dass er schnell machen und sich setzten sollte, dabei sah er ihn furchteinflößend an. Alex erwiderte seinen Blick ruhig für einige Sekunden, dann wandte er sich ab und sah sich in dem Kurs um. Er ließ den Blick über uns Schüler schweifen, als wollte er von jedem einzelnen von uns ein Profil anlegen, indem er all unsere Eigenschaften festhalten wollte. Nach einer mir unendlich lang schienenden Weile, die aber nur ein paar Sekunden angedauert haben kann, schmunzelte er plötzlich, dann schüttelte er mit dem Kopf und sagte mit klarer Stimme "Nein, danke", bevor er sicher zu einem leeren Sitzplatz ging und sich da hinsetzte. Wir beobachteten ihn verwirrt und neugierig, schließlich brachte jeder Neuling zumindest ein paar Worte über seine Hobbies oder sein Alter oder so hervor. Seine Weigerung, etwas über sich zu erzählen, verunsicherte und verwirrte wenige.
"Na gut.", sagte Herr Finkel. "Alex, wenn du dich für zu umwerfend hältst, um etwas über dich preiszugeben (einige Jungs aus der letzten Reihe stimmten unserem Lehrer hierbei durch höhnisches Gelächter zu, was Alex aber nicht weiter zu stören schien), dann können wir jetzt ja endlich mit der Geschichte unseres Landes, also mit etwas wichtigem, anfangen. Johannes", er sah einen Jungen an, der in der ersten Reihe saß, und so motiviert und wissbegierig wie sonst nur wenige Schüler, kerzengerade auf der Kante seines Stuhls hockte, und nur noch darauf wartete, die anderen, und vor allem Herrn Finkel an seinem scheinbar endlosen Wissen teilhaben zu lassen. "Könnten Sie bitte wiederholen, bei welchem Punkt wir letzte Stunde stehengeblieben waren?"
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Die Geschichte vom dreifachen "W"
Aventura"Das dreifache W ist eine Frage. Eine der richtig schlimmen Sorte, denn sie verändert Dinge. Sie beginnt und beendet Kriege, sie macht Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern. Sie öffnet Türen und lässt sie zugleich mit einem schallenden Knaller zufalle...