Ich atmete tief ein und aus, griff nach dem Griff meines Koffers und lief den Gleis herunter, schaute nach rechts und links und lief dann nach links, hinaus auf die Straße. Ich blieb stehen, ließ den Griff meines Koffers los und suchte den Zettel mit der Adresse in meiner Handtasche. Verloren schaute ich über den Taxiplatz vor dem Bahnhof. 'Wie rief man eigentlich ein Taxi?' In all meinen 17 Jahren hatte ich noch nie ein Taxi rufen müssen um irgendwo hinzukommen. Klar hatte ich in Filmen immer gesehen, wie dort Taxis gerufen worden wurden, doch irgendwie konnte es doch nicht so einfach sein? War das nicht irgendwie ein wenig unhöflich? Was dachte denn dann der Fahrer beziehungsweise die Fahrerin von mir? Ich schüttelte meinen Kopf. Ich machte mir definitiv zu viele Gedanken. Ein Taxi hielt vor mir. "Darf man Ihnen helfen, verlorene Schönheit?" Der Fahrer war jung, blond und hatte ein super süßes Lächeln. "Klar, das wäre wirklich super." Er stieg aus, nahm meinen Koffer und lud ihn in den Kofferraum und hielt mir dann auch noch die Beifahrertür auf.
"Sie haben es schon gut, den ganzen Tag mit einem BMW X1 durch die Gegend zu fahren."
"Sag Du, sonst komm ich mir so alt vor."
Er lächelte zu mir rüber, als er in den zweiten Gang schaltete.
"Aber ja, ist schon nicht schlecht. Als Nebenjob ist es schon nicht schlecht. Wenn du den Radiosender nicht magst, kannst Du ihn gerne ändern. Ich darf doch Du sagen?"
"Ja klar und passt. Noch kenne ich deine Radiosender in München."
"Wo kommst du denn her?"
"Frankfurt."
"Und was machst du dann in München?"
"Umziehen."
Er musste an dem Ton meiner Stimme erkannt haben, dass ich nicht darüber reden wollte, denn er fragte: "Falsches Thema?"
"Sehr falsches Thema."
"Dann reden wir über etwas anderes. Warst Du schon mal in München?"
"Nein, noch gar nicht. Ich hasse München. Und Bayern."
Er lachte. "Darf ich Dich vom Gegenteil überzeugen?"
"Du kannst es gerne versuchen, aber ich glaube kaum, dass Du was erreichen wirst."
"Bist Du Dir da sicher?"
"Bist Du eigentlich immer so aufdringlich?"
"Nur bei so hübschen Mädchen wie Du und das kam noch nicht vor."
Ich musste lächeln. "Ah, mein Lieblingslied", sagte er und drehte die Lautstärke ein wenig hoch. Es war Jennifer Lopez Hit 'On the Floor'. Ich musste lächeln. Der Lieblingssong meiner Mutter und mir. Ich ließ mein Fenster herunter, schloss die Augen und genoss die kalte Fahrtluft, die in mein Gesicht blies. Ich sah meine Mom und mich in unseren Küche tanzen, morgens um 4 kurz vor ihrer Abreise nach New York. Wir sind durch die Küche gehüpft, haben getanzt, gesungen, gelacht und Spaß gehabt. Alles schien so in Ordnung, wir waren glücklich, sorgenfrei und lebten den Moment ohne zu realisieren, wie schnell dieser Moment vorbei sein könnte. Eine Träne lief meine Wange herrunter und der Fahrtwind blies sie weg, als wolle er mich trösten und meine Tränen trocknen. "Alles okay?" "Ja, ich genieße nur diese Fahrt." Ich schaute zu ihm rüber. Ich kannte nicht mal seinen Namen und trotzdem hatte ich das Gefühl, als kannte ich ihn schon Ewigkeiten.
"Darf ich Dich auf einen Starbucks Kaffee einladen?"
"Ich trinke keinen Kaffee, aber die haben seit neustem eine kalte Heiße Schokolade, die ist wirklich super mit den kleinen Marshmallows dabei."
"Dein Wunsch ist mir Befehl."
Er blinkte, hielt rechts kurz an und sprang in den Starbucks und kam keine drei Minuten später wieder heraus, reichte mir meine kalte Heiße Schokolade durchs offene Fenster und stieg wieder ein. "Dann wollen wir mal wieder. Schmeckt deine kalte Heiße Schokolade?"
"Schmeckt super, danke dafür." Ich lächelte in seine Richtung.
"Darf ich Dir mal ein Kompliment machen?"
"Klar, was gibts denn", fragte ich neugirig.
"Du kamst mir ohne irgendwelche Vorurteile entgegen. Die meisten, die bei mir einsteigen denken, dass ich die Schule geschmissen habe, total assozial bin und nichts besseres finde." Er lachte. Ich musste schmunzeln, schaute auf die Straße und betrachtete die Menschen. Die meisten eilten durch die Menschenmenge, ihre Gesichter trotslos und leer, ihre Augen trübe und leblos.
"Weißt Du, ich finde unsere Gesellschaft schrecklich. Man kann niemandem mehr begegnen ohne dass der andere einen bewertet und seine voreiligen Schlüsse zieht. Man kann nicht über einen Menschen urteilen, dessen Geschichte man nicht kennt. Aber um diese Geschichte kennen zu lernen, müsste man sich ja Zeit nehmen und zuhören und heutzutage hat einfach keiner mehr Zeit für irgendetwas. Schau ihn deren Gesichter. Sie sehen alle gleich aus. Sie haben ihre Vielfalt verloren, ihre Einzigartigkeit. Jeder ist wie der Andere. Es scheint, als leben sie alle nur halb in ihrer Seifenblase anstatt alles auszukosten und den Moment zu genießen."
Im Radio kam Flipsyde's Happy Birthday. "Natürlich ist nicht alles schlecht, aber ist schon ein wenig nervend, nicht?"Er schaute zu mir rüber. "Sorry, falls ich Dich damit nerve, ab und zu..."
"Da überkommts einen einfach, nicht? Wenn gerade alles schief läuft im Leben, was nur schief laufen kann und Du keinen Bock mehr auf irgendwas hast."
Ich schaute ein wenig verdutzt. Ich erwischte mich dabei, wie ich das getan hatte, was alle anderen auch getan hätten und ich doch so verachtete. Ich hatte ihn bewertet gehabt ohne ihm seine Geschichte haben erzählen hören und nicht damit gerechnet, dass er so etwas sagen würde. Dass er es genau so sah wie ich. Sein Gesicht war ernster geworden, als ich zu ihm rüber sah. Ich kannte immer noch nicht seinen Namen.
"Weißt du, was ich aber glaube?" Ich schaute fragend zu ihm rüber: "Was denn?" "Dass das alles nur Masken sind, die Menschen aufgezwungen bekommen. Das jeder Mensch, tief drinne, immer den Wunsch birgt, mal man selbst zu sein, sich die Zeit zu nehmen und zuzuhören und auszubrechen." Er schaute mich an, in seinen Augen spiegelte sich pure Ehrlichkeit wieder. Seine Augen waren eisblau, tiefer als das Meer und zogen einen magisch in ihren Bann. Ich vergaß, weswegen ich in diesem Taxi saß, warum er mich durch München fuhr, wie ich überhaupt dorthin gekommen war. Es war, als wäre ich in eine andere Welt abgehoben.
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Aufgeben kann jeder
Teen FictionNichts ist für immer und Pläne gehen immer schief. Das musste ich selbst schmerzlich feststellen. Nach dem Flugzeugunfall meiner Mutter werde ich nach München geschafft, worauf ich wirklich gar keine Lust habe und dann kommt doch alles anders als ge...