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Zu Hause angekommen merkte ich direkt, dass er da war. So leise wie möglich versuchte ich mich in mein Zimmer zu schleichen. Doch er bemerkte mich. "Du stinkst nach Rauch!", schrie er und erschien im Rahmen der Zimmertür. "Mach dich mal nützlich.", nuschelte er und starrte an einen Punkt hinter mir. Ich wusste, er schwelgte in Gedanken, in Gedanken an die Vergangenheit, und dass er etwas falsch gemacht hatte, sehr viel sogar. Und dass er es vielleicht bereute.
Man sah Schmerz in seinen Augen. Wie, als hätte er sich selbst ertappt, zu emotional zu werden, drehte er sich um und ging wieder ins Wohnzimmer.
Er war kein Säufer. Oder Raucher. Oder Drogenabhängig. Er war nur Aggressiv.
Ich begann also, mich nützlich zu machen, und stellte mir vor, wie es wäre, eine Familie zu haben. Einen Mann, Kinder.
Wieso zerbrechen so viele Familien. Wieso. Es wäre aber vielleicht besser gewesen, wäre unsere zerbrochen.

Manchmal hörte ich meinen Vater weinen und vor sich hinmurmeln. Ich denke dabei immer, dass er mit meiner Mutter redet.
"Es tut mir alles so leid. Ich hatte es nie so gewollt. Waren wir nicht eine kleine glückliche Vorzeigefamilie? Waren wir nicht glücklich?"
Meistens sagte er etwas in dieser Richtung und brach dann in einen Heulkrampf aus.
Dieses Szenario hatte mich noch nie in irgendeiner Art und Weise berührt. Ich fand, mein Vater war selber Schuld und musste dafür jetzt sein Leben lang büßen.
Ich wusste, er bereute. Aber bereuen brachte sie nicht zurück. Nichts brachte sie zurück.
Ich fing an zu zittern. Es war wieder einer dieser Momente, in denen ich mich alleine und so verdammt hilflos fühlte.

"Mami, im Kindergarten haben sie mir Sand in die Haare geschüttet!"
Entsetzt setzte sie sich neben mich, immer so bemüht und mitfühlend. "Das gibt es doch nicht!", sagte sie voller Ensetzten. "Wer war das denn?", fragte sie.
"Weißt du, Mami, ich bin ein besserer Mensch als diese Kinder. Deshalb sage ich ihren Namen nicht. Weil ich nicht böse bin."
Stolz hob ich den Kopf und schaute meiner Mami in die Augen. Bewundernd schaute sie mich an. "Solche guten Menschen wie du müsste es viel viel öfter auf dieser bösen Welt geben.", sagte sie und schaute zu Boden. "Mami, du musst nicht traurig sein, falls du vielleicht nicht immer gut warst. Du kannst es durch eine gute Tat wieder gut machen.", sagte ich.
"Weißt du mein Engel, manche Dinge kann man einfach nicht mehr gut machen.", flüsterte sie und stand auf. Und dann ließ sie mich alleine in unserem Garten sitzen, und zum ersten Mal breitete sich in mir ein Gefühl der Leere aus.

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Der nächste Tag lief normal wie jeder andere ab. Bei Schulschluss schaute ich dem wegfahrendem Bus hinterher und zündete mir eine Zigarette an. Doch nach einigen Minuten hörte ich etwas hinter mir. Ich drehte mich um und sah die kleine Braunhaarige. Ich verdrehte die Augen und lief weiter. Ich beachtete sie nicht mehr.

Sie versuchte es echt hart. Jeden Tag lief sie mir hinterher, zu schüchtern, um mit mir zu reden, aber noch mutig genug, um mir hinterherzulaufen. Manchmal hörte ich sie husten, manchmal hörte ich sie auch weinen. Und ab und zu staunend lachen, wenn sie ein Kaninchen oder Fuchs sah.
Der Wald war mein zweites zu Hause. Besonders auf meinen Nachhausewegen konnte ich nicht anders, der Drang, die Verlängerung durch den Wald zu nehmen, war zu hoch, um ihm nicht zu widerstehen.

Eines Nachmittages sprach sie mich auf dem Nachhauseweg an. "Ich heiße Sofia. Du heißt Scar. Ich bin 14. Ich glaube du bist 16. Ich weiß es nicht. Du musst auch nicht mit mir reden. Aber ich liebe deine Haare und deine Kunst, Gefühle zu verstecken. Dir nichts anmerken zu lassen."
Ich bließ den Rauch aus. Sie hatte mich durchschaut.
"Ich will mich dir nicht anvertrauen, das wäre schwach. Ich werde dir nicht erzählen, wie viel mich was belastet oder mir wehtut. Aber sie verprügeln mich immer im Bus. Und deshalb laufe ich. Ich mag diesen Weg. Also durch den Wald. Obwohl er länger ist. Aber es lohnt sich.
Ich habe mich schon immer mal gefragt, wie so eine Zigarette schmeckt."
Kaum merklich zuckte ich zusammen. Sie war 14. Als ich anfing zu rauchen, war ich auch 14. Kurz nachdem meine Mutter gestorben war. Ich blieb stehen. Ich sah, wie sie sich neben mich stellte, und mich anschaute.
Meine Stimme klang rau als ich sie fragte, ob sie eine Kippe haben wollte.
Ich wusste, es war nicht richtig. Ich wusste, ich hätte es lassen sollen. Sich mit jemandem anzufreunden war nicht richtig.
Als sie ihren ersten Zug tat, hustete sie um ihr Leben. Ein kleines Lächeln kam mir auf die Lippen. Doch direkt nach der ersten fragte sie auch schon nach der nächsten. Lachend gab ich sie ihr. Verdutzt schaute sie mich an. "Was ist?", fragte ich jetzt wieder normal. "Du hast so ein schönes Lachen.", antwortete sie und lächelte. "Du auch.", sagte ich und lächelte zurück.

Es wurde zur Normalität, dass wir jeden Tag miteinander rauchend nach Hause liefen. Wir unterhielten uns über den Wald und Familie und Moral. Und wir verstanden uns viel besser.
Doch eines Tages kam Sofia nicht. Also lief ich zum ersten Mal seit einem Monat wieder alleine nach Hause. Es fühlte sich komisch an. Plötzlich zog sich der Weg so in die Länge, und ich hatte nichtmal mehr Spaß am Rauchen. Warum sie wohl nicht mitgekommen ist? War sie krank? Im Endeffekt konnte es mir egal sein. Sollte sie tun was sie wollte. Ich hatte keine Freunde. Sie war ein Zeitvertreib.
Gedankenlos lief ich weiter.

"Pass gut auf, mein Schatz, mit wem du dich anfreundest. Sie könnten dich ausnutzen, dich kaputt machen oder schlecht vor anderen dastehen lassen. Ich habe schon zu oft diesen Fehler gemacht. Sei vorsichtig. Niemand ist zu 100% ehrlich zu dir."
"Nichtmal du, Mami?"
"Nichtmal ich, mein Engel."

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