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Leise öffnete ich die Haustür. Im ganzen Haus war es dunkel, und es roch unangenehm. Er war nicht da. Ich spürte es. Es lag nicht diese Atmosphäre in der Luft, bei der man dachte, dass gleich irgendetwas schlimmes passieren würde.
Ich zog meine völlig durchnässten Schuhe aus und tapste in mein Zimmer. Ich stank nach Rauch, was mich irgendwie innerlich befriedigte. Ja, ich war kaputt. Und ja, ich wusste es.
Ein Schamgefühl breitete sich in mir aus, als ich an den Moment dachte, indem ich Tränen in den Augen hatte. Wurde ich so schwach?
Ich konnte schon immer erkennen ob ein Mensch schwach war. Bei meiner Mutter konnte ich es in ihren Augen erkennen. Sah man mir es auch an? Dass ich eigentlich schwach war? Unter der ganzen Last zusammenbrechen zu drohte?

"Mami, hör auf zu weinen! Bitte Mami. Ich ertrage es nicht. Du siehst so schwach aus, wenn du weinst.", sagte ich und drückte sie. Sie war so kaputt, so allein, ich weiß nicht was sie am Leben hielt. Was ihr diesen Willen, leben zu wollen, gab. Wie als könnte sie Gedanken lesen antwortete sie mir. "Du mein Schatz bist das einzige was mich noch am Leben hält. Schau dich an. Du bist so stark und wunderschön."

Eine gewisse Erleichterung hatte sich damals bei ihren Worten in mir ausgebreitet. Ich hatte mich wichtig gefühlt. Ich hatte eine Aufgabe. Meine Mutter am Leben zu halten. Als sie dann starb, war dieses Gefühl in mir gestorben. Dieses Gefühl wichtig zu sein. Und jetzt saß ich hier. Vollkommen verlassen, kaputt und zitternd vor Kälte. Hier läuft nichts mehr so wie es sollte, schoss es mir durch den Kopf und blitzschnell stand ich auf. Ich musste mich beruhigen. Meine Gefühle in den Griff kriegen und wieder eine Maske aufsetzen. Bis jetzt hatte mich noch nie jemand durchschaut. Ich war eine Meisterin im Gefühleverstecken und es erfüllte mich mit einem Gewissen Stolz, das zu wissen.

Unter der Dusche malte ich mir, wie fast immer, ein Leben aus, indem meine Mutter noch lebte. Hätten wir es jemals weg von meinem Vater geschafft? Wären wir glücklich geworden?
So viele Fragen und es würde nie Antworten geben.

_____

Es war ein ätzender Tag. Gedankenverloren starrte ich die Lehrerin an. Ich fragte mich, wie so oft, wieso sie sich nicht unsicher unter unseren starrenden Blicken, die an ihr entlangfuhren, fühlte. Oder ließ sie es sich einfach nicht anmerken? Wie sie wohl lebte? Wie viel sie wohl schon im Leben einstecken musste, um dafür jetzt hier stehen zu können?
Der Tag verlief normal ab. Es war die zweite große Pause, ich lief wie immer allein rum, und alles war heile Welt. Naja, zumindest für alle um mich herum.
Doch dann passierte etwas, was mich die nächsten Tage noch weiter irritieren sollte. Ein Mädchen, vielleicht zwei Klassenstufen unter mir, kam auf mich zu. Sie war nicht sonderlich groß, vielleicht 1,55 cm, was in einem ziemlichen Kontrast zu meinen 1,69 cm stand. Ihre braunen, sehr langen Haare, wippten im Takt hin und her. Als sie bei mir ankam, zögerte sie für einen Moment. Was sie wohl von mir wollte?
"Bist du Scar?", fragte sie leise und schaute auf den Boden vor mir. Ich lief weiter und sie hielt mit mir Schritt.
"Ja.", antwortete ich irritiert und schaute sie ebenfalls nicht an.
"Meine Mutter meinte, dass deine Mutter vor zwei Jahren gestorben ist. Tut mir leid. Ich wollte nur sagen, dass ich jetzt verstehen kann, wieso du immer so alleine bist.", sagte sie vorsichtig, wie als könnte ich jeden Moment bei nur einem falschen Wort aus ihrem Mund explodieren.
"Aha.", sagte ich neugierig. Sei nicht zu neugierig. Neugier ist gefährliches Gebiet.
Verunsichert sprach sie weiter.
"Naja, du läufst ja immer nach Hause. Obwohl es so weit weg ist. Ich weiß das weil ich bei dir in der Nähe wohne, weißt du. Nun ja.. Ich habe mich gefragt, ob ich heute mit dir laufen kann? Ich möchte nicht mehr mit dem Bus fahren.", sagte sie und starrte wieder auf den Boden. Sie kannte mich nicht. Es war mutig, so etwas zu fragen. Ich bewunderte sie dafür, ich wäre nie in der Lage zu so etwas. Wahrscheinlich, weil ich Angst vor Menschen hätte, die genauso wie ich reagieren würden.
"Nicht interessiert.", sagte ich kalt.
Ich konnte die Trauer in ihren Augen erkennen. Wie enttäuscht und verzweifelt sie aussah. Warum sie wohl laufen wollte? Sicherlich nicht, um mich kennenzulernen.
Sie lief immer noch neben mir, klein und schlaksig und vollkommen verunsichert.
Doch davon ließ ich mich nicht beeinflussen. Es klingelte zur nächsten Stunde und schnellen Schrittes machte ich mich auf den Weg zu meinen letzten beiden Schulstunden.

Als die Schule zu Ende war lief ich zwischen den Horden von Kindern raus aus der Schule. Sie alle drängelten zur Bushaltestelle, um den nächsten Bus zu bekommen, darunter auch das Mädchen, was mich in der Pause angesprochen hatte. Sie stiegen in den Bus ein und ich beobachtete das Szenario, welches sich dadrin vollführte.
Die Kleine wurde herumgeschubst und angespuckt. Sie weinte, doch der Bus fing langsam an zu fahren, wie als wäre alles auf der Welt okay, und tuckerte, mit einem weinendem Mädchen, zur nächsten Haltestelle.

Mir wurde klar, dass jeder Mensch eine kleine Last zu tragen hatte, also machte ich mir nicht weiter einen Kopf darüber.
Gierig zündete ich meine Zigarette an und Schritt durch die Stille zu dem Haus, indem so viel passiert war, dass ich es am liebsten niederbrennen würde.

"Weißt du, wie dein Papa und ich damals das Haus gefunden haben?", flüsterte meine Mutter mir verschwörerisch zu und lächelte. Es war ein wunderschöner Sommertag und ein leichter, erfrischender Wind wehte ab und zu um uns herum. "Wir wollten eigentlich gar nicht hier her. Wir wollten in die Großstadt, damit wir unendlich viele Möglichkeiten haben. Aber dann hat dein Papa dieses Haus hier geerbt. Und wir haben kurzerhand beschlossen, einfach einzuziehen. Dumm, oder?", sagte sie und lachte. "Mami, ich finde das gar nicht dumm.", sagte ich ernst. "Ich finde, man sollte auf sein Herz hören. Und wenn eure Herzen gesagt haben, dass es das Richtige ist, war es nicht dumm!"
"Da hast du wohl recht, mein Schatz.", sagte meine Mutter und musste lachen. "Man sollte immer auf sein Herz hören."

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