Kapitel 3: Stadt

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Die Bahn ratterte gemächlich über die Schienen nach Neu Moskau, ließ dabei das hüglige Weideland hinter sich und kam zu den goldenen Feldern die kurz vor der Ernte standen. Nadia betrachtete wie die Weizenähren und die Gerste sich im Wind wiegten, die Falken darüber schwebten und die Bauern mit zufriedenen Gesichtern bei ihren Höfen standen.

»Fährst du auch in die Stadt um den Start des Schiffes zu sehen, Liebes?«, fragte eine ältere Dame amüsiert, die ihr gegenüber saß.

Die Mitarbeiterin der sieben Kastanien lehnte sich etwas zurück und nahm wieder ordentlich auf ihren Sitz Platz. »Ja, zusammen mit einer Freundin. Ich freue mich schon riesig drauf. Kommen Sie denn auch zum Fest?«

Auf der Erde hatte sie niemals erlebt, dass man einfach so in einem Abteil mit einem Fremden ein Gespräch begann. Hier auf Ganymed war es dagegen alltäglich und dafür liebte sie diesen Mond nur noch mehr, da sie sich so jeden Tag auf neue Begegnungen und Bekanntschaften freuen konnte.

Ein Kopfschütteln war die Antwort. »Ich habe mich nie wirklich für Raumschiffe und dergleichen interessiert. Ich bin hier auf Ganymed geboren und werde auch hier sterben.«

»Sie haben also nie den Mond verlassen?«

»Ich wollte als ich jung war, doch es hat sich niemals ergeben. Ich arbeitete für das Geld, traf dann aber zufällig meinen Ehemann, heiratete, bekam Kinder und fand viele Freunde in all den Jahren. Lange Reisen passten da nie irgendwie rein.«

»Bereuen Sie es denn niemals zu anderen Orten geflogen zu sein? Meine Freundin würde wahnsinnig werden, wenn sie ihr ganzes Leben hier verbringen müsste.«

Die ältere Dame lachte bei dieser Bemerkung auf. »Nein, Liebes, Niemals. Ich habe zwar nicht viel vom Sonnensystem gesehen, aber ich habe trotzdem viele schöne Erinnerungen und das ist doch das Wichtigste, oder? Wenn man auf das Leben zurückblicken und sagen kann, dass es gut war. Und ich denke, die meisten Leben sind gut. Die Menschen erkennen es einfach nur nie.«

Der alte Zug machte einen Ruck als sie geendet hatte und während Nadia so auf ihren Sitz einen kurzen Hüpfer machte nickte sie zustimmend. Ja, all die wunderbaren Erinnerungen die sie gesammelt hatte seitdem sie nach Ganymed gekommen war. Sie alle funkelten in ihr und würden sicher bald größer sein als der Sternenhimmel draußen. Sehnsüchtig blickte sie bereits zu den weißen Gebäuden von Neu Moskau, die immer näher kamen. Ihr privates Universum der Wunder würde heute sicher weiter anwachsen.

»Sonja würde sicher lachen und mich ein Kind nennen, wenn sie mich so denken hört«, gluckste sie und wandte sich wieder an die ältere Dame. »Weswegen fahren Sie denn nach Neu Moskau?«

»Ach, der Cousin meines Mannes betreibt dort ein Café. Ich fahre jede Woche dorthin um ein wenig zu plaudern?«

»Wow, wirklich jede Woche?«

»Ja, Liebes«, antwortete die ältere Dame lächelnd. »Jede Woche. Es gibt immer viel vom Hof zu bereden und ich höre immer gerne die kleinen Geschichten, die er mit den Gästen erlebt.«


Neu Moskau besaß wenig Ähnlichkeit zu seinem inzwischen zerstörten Gegenstück auf der Erde. Es hatte keinen Kreml, keinen roten Platz und keinen harschen Winter. Die meist dreistöckigen Gebäude waren leicht schief und weiß verputzt mit grünen Dächern. Beinahe alle hatten Balkone auf denen Blumen blühten und von den drei Hauptstraßen abgesehen besaß die Stadt viele gemütliche Gassen mit gusseisernen Laternen, versteckten Parks mit wunderschön gearbeiteten Springbrunnen und eine große Anzahl an feinen Restaurant und Cafés, die meist in einem italienischen oder deutschen Stil gehalten waren. Es erfreute Nadia immer wieder, wenn sie einen neuen Laden fand wo sie etwas heiße Schokolade trinken oder eine Pizza essen konnte.

Obwohl die Kuppel von Neu Moskau mit vier Millionen Einwohnern die größte Kolonie auf Ganymed war, so lebten in der eigentlichen Stadt nur vierhunderttausend Menschen. Dies war wenig im Vergleich zu anderen Monden wie Io oder Kallisto, wo manche Städte bis zu zwei Millionen Einwohner hatten. Allerdings waren viele der Kuppeln dort komplett urbanisiert, während Neu Moskau große, weite Landstriche mit Feldern, Weiden und Wäldern besaß, die nach den Herzen der Menschen riefen.

Da sie noch etwas Zeit hatte machte Nadia nach ihrer Ankunft am Hauptbahnhof einige Umwege. Auch wenn es nicht so bevölkerungsreich war wie andere Städte, so war Neu Moskau dennoch eine Großstadt. Allerdings merkte man dies nicht. Es fehlten Hochhäuser, große Bankengebäude, keine U-Bahn und es gab auch keine Industrieviertel. Überall waren Fenster einladend offen, Wäsche hing über ihrem Kopf an Leinen, Kinder rannten auf den autofreien Straßen umher und sie wurde gegrüßt wie in Arbali.

Zuerst ging sie zum kleinen Museum über russische und deutsche Geschichte, wo sie mit dem Besitzer etwas über die Vergangenheit sinnierte. Es war schön zu wissen, was die Vorfahren für einen getan hatten.

Danach besuchte sie die Baustelle für einen neuen Spielplatz und kaufte für die Arbeiter dort einige Brötchen. Es war schön zu wissen, dass die Kinder bald einen weiteren Ort zum Spielen haben würden.

Anschließend ging sie in einen kleinen Park, wo sie die Vögel beim Baden betrachtete. Ein junger Mann, der mit den Hund gerade Gassi ging, sprach sie dabei an und sie redeten etwas über die Arten, die man von der Erde hierher importiert hatte. Es war schön zu wissen, dass so viele Tiere auch hier auf Ganymed eine neue Heimat gefunden hatten.

Ja, die Welt war schön. Nadia dachte es sich bei jeder Blume, bei jeder Straßenecke, bei jedem lächelndem Gesicht und beim Summen der Sternenschiffe, die über ihre Köpfe dahinflogen. Damals, als sie noch mit ihrer Schwester in Sibirien auf der Erde, zwischen den vielen dunklen Fabrikschloten gelebt hatte, so hatte sie sich Bilder von dieser fernen Kolonie angesehen, all dieses Grün hier betrachtet und am Ende die Homepage der sieben Kastanien gefunden. Wie verzaubert hatte sie ganze Nächte lang Neu Moskau und die Herberge über ihren Bildschirm betrachtet, hatte sich verliebt und irgendwann erkannt, dass Ganymed nach ihr rief. Ja, der Mond hatte nach ihr gerufen und bis heute war sie glücklich mit ihrer Entscheidung dem Ruf gefolgt zu haben, wissend dass ihre Füße auf diesen Boden gehörten.

Viele von ihren Klassenkameraden hatten auch die Erde verlassen, doch meist zu reicheren Welten wie Mars oder Io. Man hatte über die naive Nadia gelacht, die nach Neu Moskau wollte, wo doch keine Karriere, kein Reichtum und keine moderne Zivilisation wartete. Als Antwort hatte sie nur gelächelt und war in das Raumschiff gestiegen, das sie hierher gebracht hatte. Mögen die anderen ihr Glück finden, doch das ihrige war hier auf Ganymed.

Sie hob ihren Kopf als sie das Knallen von Konfettiraketen und Musik hörte. Anscheinend begann der Start der Genesis 7 bald. Sie musste sich beeilen, wenn sie noch rechtzeitig zur Aussichtsplattform wollte.

Vor ihr erhob sich eine kleine Kapelle auf deren Dach eine Statue der Mutter Maria stand. Nadia faltete die Hände zusammen und dankte Gott für einen weiteren wunderbaren Tag, bevor sie forteilte.


Das Lied der sieben KastanienWo Geschichten leben. Entdecke jetzt