1. Arwid. Weshalb man den Wölfen nicht zu nahe kommen sollte.

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Ein junger Mann stand in einiger Entfernung vor dem haushohen Drahtzaun. Zwar hatte er den Rücken zu mir gewendet, aber ich wusste, dass er mich schon längst bemerkt hatte. Er griff in einen Eimer, um daraus ein blutiges Stück Fleisch zu nehmen.

Gierig und laut bellend liefen die Wölfe auf der anderen Seite des Zauns hin und her, aber sie mussten sich nicht lang gedulden. Denn schon wurde das Stück tote Tier durch die viel zu großen Maschen im Zaun zu ihnen geworfen. Sofort begannen sie, es mit spitzen Zähnen zu zerreißen.

„Scheint so, als liefe gerade die nächste Beute auf mich zu, die ich meinen Wölfen zum Fraß vorwerfen werde.", begrüßte mich der Mann, ohne sich nach mir umzudrehen. Stattdessen griff er erneut in den Eimer.

Seine Wölfe. Es hätte gar nicht diese Worte gebraucht, um mir klar zu machen, dass er der Anführer dieses seltsamen Rudels war. Und es hätte auch nicht der Drohung, die in seiner Begrüßung lag, bedurft, denn mir war klar: Würde ich mich heute nicht freundlich mit diesem Rudel stimmen, würde es mich nicht wieder lebendig gehen lassen.

Aus diesem Grund konnte ich nicht fassen, dass ich meine Gedanken tatsächlich aussprach:

„Scheint zumindest so, als würden sie mehr Beute nötig haben, so mager wie sie sind."

Ich flüsterte fast, trotzdem aber gehörte diese große Klappe, die ich gerade hatte nicht zu meinem Plan.

Während ich langsam näher kam, ließ ich die Szenerie einen Moment lang auf mich wirken. Die Erscheinung des jungen Mannes wäre für Unwissende wohl weniger merkwürdig gewesen als die Tatsache, dass ihn von den erwachsenen Raubtieren nur ein Zaun trennte, dessen Maschen eindeutig groß genug dafür waren, dass die Tiere auf die andere Seite springen konnten. Im ersten Moment hatte ich gedacht, die Abgrenzung wäre eine Art Tarnung. Aber jetzt fragte ich mich, wer darauf hereinfallen sollte. Ich tat es jedenfalls nicht, was aber wohl daran lag, dass ich der gleichen Art angehörte wie der Mann und die Wölfe.

Die Abgrenzung verlief quer über die Lichtung, auf der wir uns befanden. Auf der Seite, auf der sich die fünf Wölfe befanden, gab es nur eine mit Gras bewachsene Fläche, die von dichten Nadelbäumen eingegrenzt wurde. Auf der anderen Seite stand ein mittelgroßes Holzhaus.

Ich konzentrierte mich wieder auf das Aussehen des Wesens in menschlicher Gestalt. Ein dünner Junge mit knapp schulterlangen, dunkelblonden Haaren, dessen Spitzen blau gefärbt waren. Mir fiel auf, dass seine Kleidung recht modern war. Über einem Kapuzenpulli trug er ein kariertes Hemd und seine enge Jeanshose war über sauberen Sneakers hochgekrempelt.

Er warf ein weiteres Stück zu den Wölfen und drehte sich dann endlich zu mir um. Jetzt konnte ich sein Gesicht anschauen, welches eine längliche Form hatte. Die dunklen Augen wurden von dichten Brauen und noch dunkleren Ringen darunter umrahmt. Er hatte eine breite Nase und von Natur aus dunkle Lippen, die im Kontrast zu seiner hellen Hautfarbe standen. Insgesamt sah der Anführer sehr müde aus, was die zwei dünnen Falten, die sich über seine Wangen zogen, noch verstärkten. Ich schätzte, dass er ca. zehn Jahre jünger war als ich.

Auch seine Haltung strahlte eher Müdigkeit aus, als die Stärke eines Alphatieres. Die Arme hingen an den Seiten seines Körpers herunter, die dreckigen Finger nach außen gekehrt, womit er der skurrilen Darstellung eines bei der Tat erwischten, wütenden Mörders glich.

Als mir bewusst wurde, dass er mich ebenfalls musterte, erinnerte ich mich daran wie ich mich zu verhalten hatte und machte mich etwas kleiner. Ich schaute den Anführer nun bewusst nicht mehr direkt an und sagte nichts mehr.

„Was willst du? Arwid Uekescha, richtig?"

Seine Stimme klang unerwartet neutral. Zwar blickte ich weiterhin nicht zu ihm hoch, spürte aber seinen trotz der Müdigkeit intensiven Blick auf mir.

„Das Uekescha gibt es nicht mehr. Ich bin nicht in seinem Namen hier.", antwortete ich ihm. „Ich möchte einen niedrigen Rang in deinem Rudel besetzen."

Während ich das sagte, hob eines der Tiere die zuerst gefressen hatten plötzlich den Kopf und ging mit angelegten Ohren auf uns zu. Es machte keinen Laut, und doch nahm ich lauter als alles andere den Geruch der Verwandlung wahr. Als ich den Kopf etwas zur Seite drehte, stand an seiner Stelle schon eine attraktive, dunkelhaarige Frau in engem Lederoutfit.

Mit einer kaum merkbaren Bewegung ihrer Hand griff sie in meine Jacke und zog mich damit zu sich. Zwischen uns befand sich immer noch das Gitter, aber sie stand diesem so nahe, dass die Streben ihren Körper berührten und darauf einen Abdruck machten.

Nun knurrte doch jemand. Nur war es nicht sie, sondern der junge Mann. Sie wusste, dass es an sie gerichtet war, ließ sich davon aber nicht abschrecken. Ihre beiden Hände wanderten zu meinem Gesicht und legten sich an die Stellen, an denen mein kurzer Bart meine Wangen schmückte. Nur das noch warme Blut des Beutetieres, welches noch von ihrer Wolfsgestalt an ihren Fingern klebte, versuchte ihre Kälte zu überdecken.

„Er gefällt mir.", sagte sie, schaute mir auffordernd in die Augen und hinterließ eine rote Spur auf meinen Wangen.

„Lass ihn uns behalten. Was soll er schon für Ärger machen? Viel erbärmlicher als es ist, kann unser Rudel sowieso nicht werden."

Das sie die Schwäche des Rudels so offen zugab, bestätigte meine Vermutung, dass ich aus dieser Sache entweder als rangniedrigstes Mitglied des Rudels, oder gar nicht wieder herauskommen würde. Denn Schwäche war etwas, was ein Werwolf nur vor engen Vertrauten zugab. Oder vor jemandem, den er sowieso umbringen wollte.

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