Grün, wie mein Pullover

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Clarke

Ich spürte den schweren Rucksack wie das Gewicht eines Kleinkindes auf meinen Schultern, als ich, nachdem ich die Einkäufe erledigt hatte, gemächlich die Straße hinabging und den Sonnenuntergang beobachtete, der den Himmel in orangene Flammen setzte und erste, lange Schatten tanzen ließ. Bis mein Bus kommen würde, brauchte es noch mehr als dreißig Minuten, weshalb ich beschloss, einen kleinen Umweg zu gehen und den Park von Polis zu erkunden. Das Zwitschern der Vögel und das Lachen spielender Kinder hallte durch meine Gedanken und setzte mir ein Wehmutslächeln auf. Der Park Zuhause war kaum anders gewesen, ich hatte als Kind Stunden in ihm verbracht, mit Freunden unter den großen Eichen gespielt, im Gras gelegen und die Wolken beobachtet. Selbst als ich mir während der Pubertät zu alt für die Spielplätze wurde, hatte ich die grünen Wiesen und Wälder für meine regelmäßigen Joggingrunden einbezogen und niemals zu lieben verlernt. Trotz aller Versprechen schien dies nun endgültig vorbei zu sein, leider. Mit zusammengepressten Lippen ließ ich mich auf eine der leeren Bänke fallen, blickte benommen auf die nasse Erde zwischen meinen dreckigen Sneakers und seufzte gedehnt, wobei sich meine Schultern zitternd hoben und senkten. Einige Kleinkinder rannten an mir vorbei, ich sah ihnen aus halb geöffneten Lidern nach. Das Vibrieren meines Handys ließ mich aus meiner Trance erwachen und gelangweilt den Display öffnen. Auf dem Bildschirm blickte ich direkt in das vertraute Gesicht meines Exfreundes, das mich mit einem strahlenden Grinsen begrüßte. Warum hatte ich das Bild noch nicht geändert? Die Finger der linken Hand an die Schläfe gepresst, lehnte ich mich nach vorne und stützte meine Ellenbogen auf den Schenkeln ab. Die Nachricht war von meiner Mutter, die sich fragte, wann ich wieder Zuhause sein würde. Toll. Desinteressiert tippte ich meine Antwort in das Feld und drückte auf senden. Das folgende, leise Piepsen bestätigte mir, dass die Nachricht angekommen war. Vermutlich war es Zeit zu gehen. Mit einem letzten Blick erhob ich mich von der Bank und streckte mich genüsslich, bevor ich langsam meine Tasche schulterte und zum Gehen wandte. Ich warf einen letzten Blick zurück und ließ meine Augen über die Rasenflächen und Gehwege des Parks schweifen, die sich langsam leerten. Ich würde zurückkommen, irgendwann.

Mit diesem Vorsatz fuhr ich herum, hielt aber noch im Gehen inne, als ein Knacken meine Wahrnehmung störte. Irritiert drehte ich mich auf der Stelle und stieß im selben Moment einen leisen Schrei aus, die Augen geweitet, als ein schwarz-weißer Blitz auf mich zustürmte, das auf dem Boden liegende Handy schnappte und mich unachtsam von den Beinen riss, sodass ich der Länge nach rückwärts fiel und gleichermaßen geschockt als auch erbost mit dem Kopf pendelte.



„Du verfluchtes...!"


Hektisch krabbelte ich auf die Beine und stürmte dem Hund nach, der im Affenzahn vor mir flüchtete und eine Schar Tauben aufscheuchte, die sich mit lautem Gurren in die Lüfte erhoben.


„Halt an!!"


Obwohl ich wusste, dass das Tier nicht auf mich reagieren würde, konnte ich nicht anders, als ihm im Rennen sämtliche Schimpfworte hinterher zu donnern, die mir in den Kopf kamen. Meine Füße setzten zwar elegant über die großen Pfützen, doch waren meine Schuhe schlammverschmiert und meine Jeans von Spritzern bedeckt, als ich endlich die Wiese erreichte, auf die der Hund geflohen war, während sich der Abstand immer weiter vergrößerte. Mein Puls jagte wie verrückt, meine Lungen brannten und mein alter Pullover entblößte bei jedem Sprung, den ich tat, ein gutes Stück meines Bauches, was mir einen kühle Brise über den Oberkörper pustete. Verflixt! Wenn ich nur diesen schweren Rucksack los wäre, ich würde... Wütend setzte ich zwischen zwei Bäumen hindurch, deren Wurzeln mir den Weg versperrten und wich mit einem weiteren Sprung der dritten Eiche aus, um dann hart mit einem weiteren Körper zusammen zu stoßen und diesen mit einem erschrockenen Aufatmen aus dem Stehen zu reißen. Für einen Moment schien die Welt den Atem anzuhalten, ich erhaschte einen Blick in den überraschten Ausdruck zweier grüner Augen, dann presste mir die Schwerkraft die Luft aus den Lungen. Ich schlug mit der Stirn auf den Boden, spürte den anderen Mensch halb unter mir liegen und gleichzeitig einen schrecklichen Schmerz, der durch meine Sinne explodierte. Mit einem Keuchen versuchte ich die brennenden Tränen zurückzuhalten und schnappte reflexartig nach Luft. Es dauerte weniger als zwei Herzschläge, die ich benötigte, um mich zu fassen und von der Anderen herunterzurollen.


„Hey, bist du okay?"


Beschämt rieb ich mir das Kinn und sah zu der jungen Frau hinüber, die sich schmunzelnd erhob, den Schmutz von ihrer Sporthose klopfte und mir dann lächelnd die Hand bot. Zögerlich streckte ich die Finger und zuckte zusammen, als diese ihre weiche Haut berührten. Automatisch flogen meine Wimpern hoch, meine Lippen zitterten, ich sah nur das Grün ihrer Iris. Grün, wie ein Wald im Sommer, Grün, wie ein Amazonit, Grün, wie mein Pullover. Der warme Ausdruck, den diese trugen, ließ mich nun in die Realität zurückkehren und irritiert den Kopf schütteln. Für einen Moment stand ich einfach nur da, genoss das Kribbeln ihres Atems an meiner Wange und trat dann plötzlich einen Schritt zurück. Ihre Hand glitt lautlos aus der meinen, ich räusperte mich.


„Ja... Ja, ich denke schon."


„Gut."


Sie bückte sich, ich verfolgte jede ihrer Bewegungen und spürte ein unangenehmes Prickeln im Gesicht, als ich verstand, dass es mein Rucksack war, den sie aufhob. Selbst durch ihre Trainingsjacke konnte man ihre athletische Figur erkennen.


„Hier."


„Danke."


Errötend nahm ich ihr die Tasche ab und zuckte zusammen, als ich ein Bellen hinter mir vernahm. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, ich erkannte den Hund von vorhin, der nun mit wedelnder Rute auf uns zu lief und das Handy hechelnd vor der Joggerin ablegte, sich setzte und stolz zu dieser hinaufsah. Fassungslos klappte meine Kinnlade herab.


„Das... Ist das deiner??"


Die letzten Worte rutschten beinahe entsetzt über meine Lippen.


„Ja, das ist Mücke."


Der liebevolle Ton in ihrer Stimme war unüberhörbar, als sie mit den Fingern durch das gefleckte Fell ihres Vierbeinigen Freundes fuhr. Zögerlich hockte ich mich neben ihr nieder.


„Mücke und ich scheinen denselben Geschmack zu haben, was Handys betrifft."


Murmelte ich leise und schnappte mir das Smartphone, bevor die Hündin die Chance hatte, es sich anders zu überlegen und ihren neuen Schatz zu behalten. Instinktiv strich ich über den Display und japste fassungslos auf. Die junge Frau warf mir einen fragenden Blick zu, den ich mit einem verzweifelten Grinsen und einem tiefen Atemzug beantwortete.


„Ich habe meinen Bus verpasst."


Sie schien zu überlegen, denn für einen kurzen Moment saß sie einfach nur da und musterte mich durchdringend. Der Regen rann in Tropfen über ihre reine Haut und perlte an ihren vollen Lippen ab.


„Weißt du was..."


Sie blickte betroffen von mir zu Mücke und wieder zurück.


„Irgendwie ist es auch meine Schuld. Komm, ich fahre dich."


„Wirklich??"


„Ja, wirklich."


Sie lächelte kurz und legte ihrer Hündin die Leine an.


„Hast du auch einen Namen oder muss ich dich Crasher nennen?"


Als sie zwinkerte, verfärbte sich mein Gesicht noch mehr.


„Bitte... Nenn mich Clarke."


„Guten Abend, Clarke. Ich heiße Lexa."

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