Kapitel 1

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Teil 1
-
Charles

Zwei Jahre.

Zwei Jahre haben sie mich zurück blicken lassen.
Zwei Jahre geprägt von unbestimmter Angst, Verfolgung und Flucht.

Davor, nichts. Gar nichts. Vollkommene Schwärze. Kein Funke dem ich hätte folgen können, kein Riss den zu vergrößern ich in der Lage gewesen wäre.

Lucy hat nichts preis gegeben. Stundenlang bin ich ihre Erlebnisse durch gegangen, habe nach Hinweisen gesucht. Die Männer hinter der Wand wussten sich zu schützen. Ihre Gedanken konnte ich nicht untersuchen, wohl aber ist mir bewusst wie gering die Wahrscheinlichkeit ist das sie geschafft haben mir Zugang zu zwei Jahren zu gewähren, nicht aber zum wesentlichen Rest von Lucys Leben. Mächtig sind sie, aber keineswegs in dieser Größenordnung. Als ich mit Erik in ihren Erinnerungen war, war mir durchaus bewusst das etwas abwich, abwich von der Norm. Eine zu große Uniformität der äußeren Hüllen, der verbundenen Gefühle. Als enthielten sie verschiedenste Versionen der immer gleichen Geschichte. Aber ich hatte dem keine weitere Beachtung geschenkt. Nicht in dieser kurzen Zeit. Hatte es auf ihre Angst geschoben, auf Traumata und Verdrängungen. Im Nachhinein bin ich mir nicht mal mehr sicher ob es wirklich ihre Erinnerungen waren. Wirklich ihre Gefühle.
Ich hätte es wissen müssen. Ich kenne mich schließlich aus, oder? Der große Professor.

Ich konnte nicht voraussehen was passieren würde. Niemals hätte ich damit gerechnet. Vor allem nicht damit das Lucy zu so viel fähig wäre. Unglaublich viel mehr als ich ihr an Potential zugesprochen hatte. Denn wenn Erik einmal wütend ist, richtig wütend, fällt es selbst mir schwer ihn zu bändigen. Und das waren andere Umstände. Wenn ich daran denke wie er im Simulator reagiert hat.
Andere Umstände. Und sie, hat ihn einfach beruhigt. Ohne ein Wort. Kurz vor der Zerstörung. Hat ihn beruhigt und dazu gebracht ruhig weg zu gehen. Sie im Stich zu lassen. Wohlmöglich an einen Ort den sie kennt. Das glauben zumindest die die sie festhalten. Und ich habe sie in ihrem Glauben bestätigt, habe die Angst in Lucys Gesicht gesehen, ihr stummes Flehen zwischen den verweinten Augen. Auch wenn ich mir fast sicher bin dass sie nichts weiß. Fast sicher.

Ich zweifle stark daran das sie Erik wirklich finden wollen um ihn über Lucy auszufragen. Der offizielle Grund.
Als würden sie sich für eine simple Befragung soviel Mühe geben. Allein das sie mich überhaupt zu ihr gelassen haben grenzt an ein Wunder.
Nationale Sicherheit. Der Grund für ihre Festnahme. Offiziell.

Inoffiziell? Sie wissen ihre Gedanken zu schützen. Sie kalkulieren wohl damit, dass ich durch meine Begabung nicht im Besitz von gesundem Misstrauen und einer generellen Menschenkenntnis bin. Als hätte es nie eine Zeit gegeben in der ich darauf angewiesen gewesen wäre. Aber im Moment ist es von Vorteil wenn sie mich unterschätzen. Von unschätzbarem Wert.
Denn sie waren leichtsinnig. Schon die Behauptung sie würden den Zeitraum bestimmen, auf den ich großzügiger Weise Einsicht bekommen habe. Sie würden mir nur den für meine Zwecke nützlichen Teil zeigen. Als wäre ich so naiv.
Überhaupt ihre Definition von Nützlich, von Relevant ist bemerkenswert. Zwei ausgewählte Jahre. Ein Jahr ohne Erik, ein Jahr mit ihm. Ein Jahr das in ihrer Erinnerung nicht länger als vier Monate sein kann.

Alles an diesen Männern stinkt. Und zwar zum Himmel und weiter. Merken sie das nicht? Ist ihnen nicht klar das ich durchaus als intelligent gelte, einen Doktortitel habe, steht das nicht in ihren Akten? Oder glauben sie wirklich meine Gabe wäre alles was meinen Intellekt begründet?

Wenn ich nur mehr Zeit mit Lucy gehabt hätte.

Aber wer beim Schachspiel den einfachsten Zug mit seinem Bauern unterschätzt muss einen schwierigeren Weg zum Erfolg finden.
Ein weiterer Strich Wehmut gesellt sich auf meine Leinwand. Ich bin fasziniert von Lucys Farbenwelt, von ihren Metaphern und Umschreibungen. Ihr Erinnerungen sind voll davon. Gemälde, jede Einzellne. Ich habe es selbst versucht. Diese Form der Darstellung. Aber die Welt ist im Moment zu trist. Farbklekse sind so leicht zu übermalen.
Mit Erik habe ich Schach gespielt. Das erste Mal das er hier war, auf dem Anwesen. Jeden Abend bis tief in die Nacht. Schach ist etwas das ich beherrsche. Anders als die momentane Situation.
Diese Situation über die ich noch keinen Überblick gewinnen konnte. Noch nicht. Ich sollte einen Perspektivwechsel versuchen. Die Lehrer. Logan, Storm, vielleicht auch Hank. Meine Freunde um Ansicht bitten. Ich habe zu viel Ungeordnetes in den letzten 36 Stunden erfahren. Alles wiederzugeben wird hilfreich sein.
Wobei Storm meine erste Wahl sein sollte. Sie hatte am wenigsten mit alldem zu tun. Logan kennt die beiden Unglücklichen viel zu gut. Außerdem fühlt er sich obwohl ich ihn vom Gegenteil zu überzeugen versuche schuldig. Dafür sie allein zu lassen. Ins Hotel zu gehen. Nicht zu wissen was keiner von uns wissen konnte.
Hank sollte ich wirklich nicht fragen. Auch wenn er seinen Hass überwinden könnte, er hat Erik nie verziehen. Er könnte nicht objektiv bleiben. Storm ist die beste Alternative. Auch sie hat Zeit mit Lucy verbracht, aber immerhin nicht so viel wie Logan. Die beste Alternative.

Wir sollten die Lösung schnell finden. Ich bin mir nicht sicher wie genau es Lucy gelungen ist Erik zu bändigen. Es ist schwer die Emotionen zu erfassen die es gebraucht hat. Er war kurz davor zu zerstören. Lucy wusste das. Sie spürte wie seine Wut das Auto erbeben ließ, lange bevor er sich dessen bewusst werden konnte. Lange bevor irgendwer etwas bemerkt hätte. Sie allein weiß wie lange das anhalten kann. Vielleicht explodiert Erik morgen, vielleicht in einer Woche, vielleicht in einem Jahr. Vielleicht auch nie. Ich weiß es nicht. Sie hat mir keinen Hinweis gegeben. Ich habe nichts außer diesen Moment.
Diesen Moment den ich sicher gespeichert habe. Nur für den Fall. Für den Fall das ich auch dieses Mal falsch liege. Und Lucy weiß wo Erik ist.

Eine andere Perspektive.
Vielleicht gibt es doch jemanden der besser geeignet ist als Storm. Jemanden dem Lucy noch nie begegnet ist. Der noch nicht einmal von ihr gehört hat. Ordnung schaffende Objektivität.

Wie als Antwort auf meine Überlegungen klingelt es an der Tür.
Ein feines Prickeln beginnt an meinen Fingerspitzen und kriecht meine Arme hinauf, mitten in meine Brust, breitet sich aus bis in die hintersten Ecken. Euphorie. Ausgelöst von der unnachahmlichen Präsenz an der Tür. Ein Grinsen schleicht sie auf mein Gesicht, glättet die Sorgen für eine Weile.

Die Probleme haben sich nicht in Luft aufgelöst. Sicher nicht, aber je näher ich der Tür komme desto sicherer werde ich das alles gut wird. Denn die vertraute Gestalt die mir von Hank eingelassen entgegen tritt wurde weder von jemandem gebeten herzukommen, noch kommt sie aus Not oder Sehnsucht. Sie kommt, weil sie ahnte was mir immer klarer wird.

Sie wird hier gebraucht. Ich brauche sie.

Die Verbindung zwischen uns besteht noch. Keine Wut kennzeichnet ihren Blick, keine Liebe oder Reue. Ihre Hand drückt sanft meine Schulter während ihre suchenden Augen an einem Fleck auf meinem Hemd hängen bleiben. Sie wandern weiter zu meinem Gesicht fasziniert von der Erleichterung darin. Sie erwidert mein Lächeln, weder herzlich noch abweisend. Eine leichte Ironie schwingt in ihrer Stimme mit als sie zur Begrüßung ansetzt. "Hallo Bruderherz. Lange nicht gesehen.".

Forget the Past//X-MenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt