Kapitel 2

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Raven.

Wieder da, nach so langer Zeit.

Ich halte ihren Blick für einige quälend lange, unfassbar kurze Sekunden. Dann breite ich ohne ein Wort meine Arme aus und drücke sie an mich. Sie lässt es geschehen. Lässt mich machen weil sie spürt, weiß wie unendlich dankbar ich für ihre Anwesenheit bin.

„Erzähl mir alles." sie flüstert an meinem Ohr bevor sie sich geschickt aus der Umarmung windet und dem immer noch an der Tür stehenden Hank eine Kusshand zuwirft. „Bis später Großer.". Der Angesprochene blinzelt nur verwirrt und beginnt in hastigen Zügen seine Brille zu reinigen. Als hätte diese Masche je von Sprachlosigkeit ablenken können.

„In mein Büro." Ich fahre los ohne mich nach ihr umzudrehen. Fahre vorbei an einem offenen Klassenraum in dem Logan grade unterrichtet, genau so, als würden mir Lucy und Erik, wie vor einer gefühlten Ewigkeit Hand in Hand den Flur hinunter zu meinem Büro folgen. Als würde er mir diese Frau, diese großartige Frau, die ihn so unendlich glücklich gemacht hatte, erneut vorstellen, erneut an der Türe klingeln, und mir die Chance geben, es dieses Mal besser zu machen. Sie dieses Mal hier behalten.

Ich erinnere mich an ihren neugierigen Blick, erinnere mich an Logan, der sich von Peter ärgern lies. Heute ärgert keiner den anderen. Beiden sitzen still im Klassenraum. Logan scheint seinen Gedanken nach zuhängen, Peter den Gedanken seines Lehrers. Auch wenn der Junge weiß wer sein Vater ist, Eriks Verschwinden scheint ihm nicht das geringste auszumachen. Alles worüber er sich sorgen macht ist Logan. Und seine auf mysteriöse Weise verschwundenen Kopfhörer. Es war gut diese beiden zusammen zu stecken. Für Peter ist  Logan ein grimmiger Ersatz für einen Vater, der ihn nicht mal erkennt wenn er einen Meter vor ihm steht, ja der nicht einmal von seiner Existenz weiß. Für Logan ist Peters respektloser, freundschaftlicher Umgang ein guter Kontrast zu anderen Menschen. Die meisten vermeiden es ihn wütend zu machen, tänzeln vorsichtig um ihn herum. Peter will genau das, ihn wütend machen. Normalerweise. Heute wirken die beiden als hätten sie einander nie kennengelernt. 

Ich bemerke das wir bereits in meinem Büro sind. Raven, die meine geistige Abwesenheit gewöhnt ist, steht vor dem Kamin und ist dabei ein Feuer zu machen. Sie sieht umwerfend aus wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Fast als verschmelze ihre Gestalt mit ihren Gedanken scheint ihre Haut fortwährend ihre Form zu ändern, ihre Ausrichtung, ihre Farbe. Sie muss viel zu verarbeiten haben, wenn sie so leicht in diesen Zustand verfällt. Ihr Haar fällt mal lockig, mal glatt, mal blond, braun oder rot über ihren von tausenden und keinen Kleidern bedeckten Rücken.
Ich versuche nicht sie zu lesen, bestaune einfach nur das Wunder vor mir. Es ist ein Vertrauensbeweis ihrerseits, in gewisser Hinsicht. Ich würde nicht Zeuge dieses Loslassens werden, wenn sie es nicht wollen würde. Ich kenne keinen Menschen der sich selbst so gut kontrollieren kann. Und ich kenne keinen Menschen, den ich so gut kenne wie sie. Wie ich sie kannte. Vor Kuba.

Und als hätte mein gedachter Schmerz sie aus ihren Gedanken gerissen richtet sie sich plötzlich auf und dreht sich zu mir um. „Du bist alt geworden Charles." keineswegs verletzend gemeint. „Ich weiß. Es ist viel passiert seit dem letzten Mal." Das letzte Mal das ich sie gesehen hatte, war am Tag der Beerdigung meiner Mutter. Unserer Mutter wenn man so wollte. Auch damals hatte sie gewusst das ich sie brauchte. Denn egal wie sehr ich meine Mutter innerlich gehasst, wie sehr sie mich verletzt hatte, Raven brauchte ich an diesem Tag.


In Strömen prasselte der Regen auf das schützende Schwarz das ich, trotz eines bislang unbekannten Verlangens mich ein Mal, ein einziges Mal schutzlos der nassen Kälte auszuliefern, starr über meinen Kopf hielt. Wahrscheinlich weil sie es so verlangt hätte. ‚Du erkältest dich Charles. Lass den Schwachsinn. Ich will nicht schon wieder die ganze Woche im Haus verbringen müssen.' Beim Aussprechen dieser Zurückweisung hätte sie mechanisch gelächelt, mir über den Kopf gestrichen und vielleicht noch einmal meinen Pullover gerade gezupft, bevor sie sich wieder Interessanterem zugewandt hätte. Als Kind hatte ich oft versucht im Regen nach draußen zu schleichen, ein Buch unter den Pullover geschoben, um mich zum Lesen in den Gartenschuppen am Waldrand zu setzen.
Zum einen liebte ich das Geräusch des Regens der Tropfen für Tropfen auf das dünne Dach aus Holzplanken trommelte, und von Zeit zu Zeit durch einen durchlässigen Spalt in einer Pfütze auf dem dreckigen Boden neben mir landete, zum anderen war es dort ruhig. So ruhig wie an keinem anderen Ort auf dem Gelände. Der Gärtner kam bei Regen nie hierher, und die Menschen im Haus waren viel zu weit weg als das ich ihre Anwesenheit hätte wahrnehmen können. Manchmal las ich gar nicht erst. Ich lag einfach nur da und lauschte dem Trommeln über mir, hoffte auf Donner der mich zwingen würde, längere Zeit zu bleiben und meinen Gedanken freien lauf zu lassen.

Forget the Past//X-MenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt