Kapitel 4

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"Du kennst sie?"

Wir sind zurück. Viel früher als erwartet. Raven mit tränenüberströmtem Gesicht, ich verkrampft vor Schmerz, für einen kurzen, unkontrollierten Moment. Schwer atmend sacke ich zurück in den Rollstuhl, selbst überrascht davon, meine Gedanken verlassen zu haben. "Du kennst sie." wiederhole ich, die Stimme kurz vor erleichtert. Zu kurz. 

"Ich kannte sie. Für einen kurzen, wunderbaren Moment. Sie starb vor meinen Augen." 

Ich starre. Ich starre sie an ohne zu sehen. "Sie starb." Ich klinge als würde ich ihr nicht glauben, als würde ich in Zweifel stellen das sie sich sicher ist. Als würde sie lügen während nach wie vor Tränen auf den Boden vor ihr tropfen. 

"Was willst du von einer Toten Charles?" ich schlucke. "Die Lebende als die ich sie kenne befreien."

"Befreien? Ich... Ich brauche einen Moment." Ihre Stimme zittert. Ich habe sie nur einmal so aufgebracht gesehen. Nur ein einziges Mal. Wer immer Anna war, sie musste ähnlich viel Bewegung in die Leben anderer gebracht haben wie Lucy, in den wenigen Monaten ihrer Gegenwart in meinem. "Ich koche uns einen Tee." Raven braucht Abstand, das muss ich nicht in ihren Gedanken lesen um es zu wissen. Sie hat grade erfahren das jemand lebt den sie Tod glaubte, ja schlimmer noch, dass dieser Jemand zwar weiter existiert, dabei jedoch ohne jedes Wissen über seine Relevanz in ihrem Leben, in ihrer Vergangenheit und damit in ihrer Gegenwart sein könnte. Das Schlimmste dabei kann nicht die Ungewissheit sein, sondern die stille Hoffnung, die damit verbunden ist. Hoffnung, die genauso gut Frucht sein kann, mit Ungewissheit gepaart. Raven antwortet mir nicht, also setze ich mich in Bewegung, durch die Tür, den mit dumpfen Stimmen erfüllten Flur entlang bis zur Küche. Wer definiert ein Gefühl, wer steckt seine Grenzen ab? Wie erkennt ein Außenstehender die durch Selbst- und Fremdwahrnehmung definierten Grenzen der eigenen Emotionen, die doch mehr von Erfahrungen und Erwartungen geprägt sind als alles andere. Wie also versteht jemand Emotionen ohne die zugehörigen Gedanken? 

"Charles?" ich schrecke auf. War ich so tief in Gedanken? Logan hat mich sanft an der Schulter gerüttelt und mich damit fast zu Tode erschreckt. Logan, der mit Abstand die auffälligste Präsenz in einem Raum voller jüngerer, weniger erfahrener Menschen ist. Logan der sich mir immer auf meilenweite Entfernung ankündigt. "Entschuldige. Ich war in Gedanken." ich schüttle den Kopf, wie um eine Fliege zu verscheuchen. Eine Fliege, deren Summen hartnäckig alle anderen Gedanken übertönt. 

"Was du nicht sagst." Logan wirkt fast schon amüsiert beim Anblick meiner Zerstreutheit. "Ich habe dir in der Zwischenzeit einen Tee aufgesetzt. Ich hoffe ich hatte Recht damit das der leere Kessel auf deinem Schoß dafür gedacht war?". Oh. Er steht also schon eine ganze Weile neben mir. Der Kessel auf dem Herd pfeift schon. Erst jetzt nehme ich meine Umgebung vollständig war. Die Küche ist voller Schüler, die sich für das Mittagessen anstellen. "Danke." ich lächle verlegen und kratze mich am Kopf, während ich zu ihm aufschaue. Logan trägt mehr als seinen typischen Bart, die Haare beginnen auch auf den Wangen nach zu wachsen. Die Schatten unter seinen Augen, die einem von Vergangenheit geplagten Schlaf gedankt, ohnehin selten weichen, scheinen jetzt fast künstlich überbetont. "Du hast natürlich recht. Ich wollte mir Tee machen. Hast du schon von unserem Besucher gehört?" 

"Natürlich." seine Stimme betont neutral, als würden Wut und Hoffnung sich ausgleichen wie Berg und Tal. "Ich trage dir den Kessel nach drüben." Er drückt mir zwei Tassen in die Hand und geht einfach vor, ohne meine Antwort abzuwarten. Er will sich davon überzeugen das sie gekommen ist. Will mit eigenen Augen sehen was das Haus wie ein Nebel als Gerücht durchzieht. Auf dem Flur begegne ich immer noch zahlreichen Schülern, die ihre Klassenräume in Richtung Küche verlassen. Ich höre ihre eilig für ein "Hallo Professor" unterbrochenen Gespräche flüsternd in ihren Gedanken nach hallen. Alle sprechen von ihr, der wohl kontroversesten Mutantin der Gegenwart. Heldin, Vorbild, Verräterin, Geflohene. Die Meinungen gehen weiter auseinander als ich erwartet hätte. 

Logan ist an der Tür angekommen und klopft mit verkrampfter Faust gegen das schwere, dunkle Holz, den Griff des Kessels in der anderen Hand von weißen Fingern umschlossen. Ich bin hinter ihm zum stehen gekommen, als würde ich in einer Schlange darauf warten zur Audienz vor gelassen zu werden. Für den langsam nachlassenden Schülerstrom im Gang sind wir beide ein ins Wasser ragender Ast. Wir erzwingen einen Knick in ihrer Route und ziehen dabei sämtliche Aufmerksamkeit auf unseren Fixpunkt am Ufer, die Tür die sich jetzt öffnet. "Logan.", Raven nickt ihm aus dem Türrahmen heraus zu und winkt uns, ihr zu folgen. Ich kann jetzt schon hören wie die beiden glücklichen Mädchen die den Gang im richtigen Moment für einen kurzen Blick passieren beim Mittagessen zum Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit werden. 

Raven hat sich wieder im Sessel niedergelassen, während ich mich mit dem Rücken zum Kamin positioniere. Logan stellt den Kessel auf dem Tischchen zwischen uns beiden ab und bleibt fast unschlüssig neben mir stehen. "Ich kann nicht behaupten das es schon wäre dich sehen Raven. Aber ich vertraue Charles dir zu vertrauen." Raven lächelt ihn an, mit einem Hauch der alten Provokation "Nichts anderes hätte ich von dir erwartet.". Die beiden sind sich nie in Freundschaft begegnet, zumindest nicht diese, gegenwärtige Version von Logan. Er starrt sie noch einige Sekunden an, dann scheint er zufrieden zu sein und dreht sich um, bereit den Raum wieder zu verlassen. "Noch eins Logan." Er hält inne, macht sich aber nicht die Mühe noch einmal den Kopf zu wenden "sag den Lehrern bescheid. Ich will heute Abend alle nach dem Essen sehen. Ich glaube es wird einiges zu besprechen geben.". Er nickt nochmal, dann ist er verschwunden und ich bin wieder alleine, mit Raven und der Fliege in meinem Kopf. 

"Er sah müde aus." Raven gießt den dampfenden Tee in die mitgebrachten Tassen und reicht mit eine. "Ja das ist er." ich puste hinein und wirble den Dampf in ein unkontrolliertes Muster, mehr aus Gewohnheit denn aus der Absicht heraus jetzt schon einen Schluck zu trinken. "Er hat sie auch gekannt?" ihre Tasse ist auf dem Tischchen geblieben. "Das haben hier alle, aber Logan besonders." ich belasse es dabei. Ich habe nicht das Recht Logans Schuldgefühle preis zu geben und ich sehe auch keinen Nutzen darin. 

Sie lässt mich, "Du möchtest das ich zuerst erzähle." und sie versteht. Wie kein anderer kennt Raven meine Denkweise. Bestätigend nicke ich. Sie streckt Zeige- und Mittelfinger in die Luft, "Zwei Bedingungen.". Natürlich ahne ich worauf sie hinaus will. "Du verlässt dich auf meine Erzählung" der Mittelfinger klappt nach unten, "und du lässt mich uneingeschränkt an Allem teilhaben was du unternimmst um sie von wo auch immer zurück zu bekommen." der hinabwandernde Zeigefinger lässt ihre Hand als zitternde, aber bestimmte Faust zurück. 

Um sie zurück zu bekommen. Können wir die die wir kannten überhaupt noch zurück bekommen?

Und da ist sie wieder. Die Fliege summt Kreise in meinem Kopf. Eine Idee zu Lucy, ein Fehler im Bild, eine Schwachstelle des Konstrukts das mein Bild von einer Person ist, die vorher jemand anderes war. Ein Gedanke der darum kämpft an die Oberfläche zu dringen, aber dafür noch nicht stark genug ist. Ich muss ihn weiter füttern, das Wasser um ihn herum klären, damit er herausspringen und die Fliege fressen kann. 

"Okay. Ich akzeptiere deine Bedingungen. Keine Gedankenreise, dafür absolutes Vertrauen, auf beiden Seiten.". Ich strecke ihr die Hand entgegen um den Deal zu besiegeln. Sie grinst ein bisschen als sie einschlägt. "Immer wieder schön mit ihnen Geschäfte zu machen Mr. Xavier."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 06, 2020 ⏰

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