"Ich möchte das du jemanden kennenlernst. Du musst nichts weiter zu ihr wissen. Du sollst dich einfach nur auf sie einlassen. Das ist alles was ich von dir brauche."
Raven zieht die rechte Augenbraue hoch. Skeptisch, amüsiert, irritiert. Es ist eine blonde Augenbraue, von dunkleren Strähnen durchzogen. Eine Angewohnheit die sie früher nicht hatte. Aber sie sagt nichts, fragt nichts. Sie weiß das es wichtig ist. Sonst wäre sie schließlich nicht gekommen. Ein Band zwischen zwei Menschen, über die Jahre gesponnen, einzelne Fäden herrausgerissen, verknotet und aufgerippt aber doch im Kern beständig. Daran glaube ich. Daran glaube ich durch sie."Also wo ist sie?" Raven lächelt aufmunternd.
"Oh du wirst sie nicht persönlich kennenlernen. Zumindest nicht so." ich fahre mir durch die Haare. Eine Angewohnheit die ich mir längst abgewöhnt hatte.
Ihr Gesicht bleibt statisch. "Erinnerungen Charles? Hatten wir diese Art von Verbindung nicht abgehakt?"
"Ich will ja nichts aus deinem Kopf. Ich will nur das du dir ein paar Szenen aus meinem ansiehst."
Widerwillig seufzt sie, scheint einen kurzen Moment abzuwägen und erlöst mich schließlich mit einem kaum hörbaren Einverständnis. "Kopfkino."
"Kopfkino." ich nicke. Und es fühlt sich fast an wie früher. "Bereit?" frage ich sie.
"Bereit."
Ich finde mich in einem großen, hell erleuchteten Saal wieder, der mit gestaffelten Reihen rot gepolsterter Sessel angefüllt ist. Ein leiser Schmerz durchzuckt meine Beine, quält sich durch die ungenutzten Nervenbahnen meiner Hüfte und lässt mich mit einem leisen Prickeln die Wirbelsäule hinauf erleichtert aufatmen. Aus diesem Grund lasse ich Mitreisende immer erst nach mir eintreten. Während ich die Leinwand, der die Stühle zugewandt sind mustere schlägt Raven neben mir die Augen auf. Erstaunt blickt sie sich um. "Tatsächlich Charles, ein Kino? Was ist aus dem Weltall geworden?"
Vor Kuba hat Raven immer darum gebettelt meine Erinnerungen sehen zu dürfen. Aber nicht um eben derer Willen, sondern vielmehr um Welten zu bereisen, die in meiner Fantasie lebendig wurden.
Warum ein Kino. Warum nicht mehr das Planetarium. Warum nicht mehr die Trampoline mit den bunten Luftballons darüber, jeder eine eigene Erinnerung. Warum nicht mehr das Labyrinth der Türen in dem wir uns das ein oder andere Mal verlaufen haben.
"Es dient meinem Zweck" sage ich schlicht und weiche der Frage selbst bewusst aus. Was sollte ich denn schon sagen, das sie nicht schon längst weiß? Soll ich ihr vielleicht von dem Abgrund erzählen, der meine Gedanken waren nach dem ich glaubte alles für immer verloren zu haben? Von den Qualen die es bereitet hat sich hinabzustürzen, durch die Jahre voller Erinnerungen? Durch das Glück, durch das Laufen, durch die Freundschaften? Nein. Das alles ist ihr längst bewusst. Dafür hat sie meine Welt mal viel zu gut gekannt.
"Setz dich doch." ich mache eine Wage Handbewegung in Richtung der vorderen Sitzreihen. Außer Raven kenne ich niemanden, der im Kino lieber direkt vor der Leinwand sitzt. Deshalb finden sich in diesem Saal auch vorne die extra gepolsterten Plätze.
Ihr leises Grinsen ist Antwort genug.
"Ich gehe dann mal hoch, den Projektor bedienen."
"Bis gleich." während ich die Stufen erklimme spüre ich wie ihr Blick sich in meine Beine bohrt. Stimmt. Für sie ist es das erste Mal.Oben findet sich ein kleiner, von einer einzigen Glühbirne erleuchteter Raum, in dem, neben dem Projektor, reihenweise mit Jahreszahlen beschriftete Kisten lagern. Ich glaube nicht, dass meine Erinnerungen schonmal so geordnet waren. Die Kiste mit den Bändern aus diesem Jahr steht geöffnet auf einem kleinen Holztisch direkt hinter dem Projektor.
Zögerlich lasse ich meine Hand über der Schachtel kreisen. Und entscheide mich. Hoffentlich richtig.Praktischer Weise ist der Saal so klein, das die kurze Vorlaufzeit des Bandes mir ausreicht um mich neben Raven niederzulassen. Meine Augen brennen jetzt schon in Erwartung des bevorstehenden Tortur. Ich konnte sie nie überzeugen wenigstens eine Reihe weiter nach hinten zu rutschen. "Weißt du, dass ich kein einziges Mal im Kino war seit Kuba?" Sie lächelt, "Tatsächlich? Du hast die Chance nie genutzt hinten zu sitzen und die Leinwand klein wie ein Fernsehgerät vor dir zu sehen?"
Als die schweren roten Vorhänge ruckelnd die dahinter verborgene weiße Fläche offenbaren kommen mir Zweifel an der Sinnhaftigkeit meiner Auswahl. Könnte ich doch nur in Ravens Kopf sehen, wüsste ich ob ich klug gewählt habe. Wüsste ich, ob meine Vorstellung von ihrem heutigen Denken, von ihrem heutigen Sein den Tatsachen entspricht. Wüsste ich, wie gut meine Intuition und Menschenkenntnis tatsächlich sind. Aber ich werde ihr Vertrauen nie wieder missbrauchen. Meine Lehre aus Kuba, mein Versprechen an die Zukunft. Zu groß die Angst sie endgültig zu verlieren. Selbstsucht. Die stärkste Motivation von allen.
Das Weiß erwacht flimmert zum Leben und ich kämpfe um die Neutralität der Projektion als sich ein blonder Schopf in alter Vertrautheit auf meine Schulter herabsenkt. Wie gerne würde ich hinein sehen, wie gerne überprüfen wie viel meiner Sehnsucht auf Gegenseitigkeit beruht, wie weit zu gehen ich mich trauen könnte. Ein Arm um ihre Schulter, genau wie früher. Nicht mehr, nicht weniger als früher. Für einen Moment, bis die Erinnerung beginnt und der Kopf auf meiner Schulter so schnell hochschießt, dass ich ihre Gedanken nicht lesen muss um die Emotion zu kennen, mit denen sie das auf die Leinwand projizierte Gesicht betrachtet.
"Anna" ein Hauch, ein Kopfschütteln, maßloses Erstaunen, hinfort getragen vom bebenden Zittern der Tränen, die unkontrolliert fallen, erstaunlicherweise weder von Wut, noch von Misstrauen gestoppt. "Wie?.."
Soviel zu meinem Plan. Soviel zu meiner Unsicherheit. Vielleicht ist sie tatsächlich nicht nur gekommen weil ich sie brauchte. Vielleicht können wir dieses Mal etwas für einander tun.
Fast so wie früher. Fast.
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Semesterferien. Großartige Erfindung. Schon wieder fast ein Jahr vergangen, und wieder kann ich nicht mehr sagen als Danke. Danke an die, die immer noch weiterlesen.
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Forget the Past//X-Men
FanfictionFür Charles war Lucy Hoffnung. Hoffnung für Erik. Für Erik war sie eine Sehende unter Blinden, die einzige neben Charles. Für Lucy waren beide Zukunft. Zukunft und die Chance auf erträgliche Vergangenheit. Lucy gefangen, Erik verschwunden. Charles s...