fourth lie

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Leo stand vor einer massiven, mit Grafitti beschmierten Eisentür, die den Eingang zu einem Meerfamilienhaus bildetete.
Er war in einem eher unschönen Distrikt von Busan gelandet. Hier gab es viel Kriminalität und vollgemüllte Straßen. Es war aber auch ein Treffpunkt vieler Undergroundrapper.
Leo hatte gar nicht darüber nachgedacht, dass Ravi eigentlich auch zu dieser Szene gehörte. Durch seinen Auftritt in der Bar hatte Leo ihn als einen richtigen Musiker angesehen, aber nachdem er ihm erzählte, dass Musik ihm doch gar nicht so wichtig sei, rückte Ravi im Zusammenspiel mit dieser Gegend doch eher in das schlechte Licht eines Straßenrappers.

Leo schaute zum tausendstenmal auf sein Handydisplay. Die Adresse konnte er schon längst auswendig, aber trotzdem wollte er sich versichern, dass es auch wirklich hier war. Er atmete noch einmal tief ein, bevor er nach einer Klingel suchte. Gerade als er seinen Blick über die Tür schweifen lies, bemerkte er, dass sie nur durch einen kleinen Stein aufgehalten wurde. Er fragte sich, ob die Tür immer offenstand. In solch einer Gegend ist das eher unvorteilhaft, nicht?
Leo schob die Tür beiseite und trat in das schwach erleuchtete Treppenhaus. Hier miefte es enorm und auch diese Wände waren mit Graffiti vollgekleistert.
Er stieg die Treppen hoch, bis er den zweiten Stock erreichte.
Zweiter Stock, linke Tür, hatte Ravi geschrieben. Man erkannte das Studio aber auch so.
Die Tür war als einzige farbig. Sie war rot angestrichen, wobei die Farbe schon begann abzublättern. Außerdem war ein Pappschild an ihr angebracht, auf dem mit Edding 'Studio' geschrieben wurde.
Anders als die Eingangstür war diese verschlossen. Leo schaute zum letzten Mal auf sein Handy. Ravi hatte unter der Adresse noch geschrieben, dass er meist zwischen 18 und 23 Uhr im Studio sei - aber was ist, wenn er nicht da ist?
Leo zögerte erst eine Sekunde, betätigte dann aber doch die Klingel.
Er wollte gerade umdrehen, als nach einiger Zeit tatsächlich jemand die Tür öffnete.
Ein Schwall von Wärme und einer Mischung aus dem Geruch von Rauch und Gras kam Leo entgegen. 
Ein Mann mit braunen Locken öffnete die Tür. Er trug ein ausgeleiertes weißes T-Shirt und hielt in der einen Hand eine Flasche Bier.
"Ist Ravi da?", fragte Leo und versuchte an dem Kerl vorbei in die Wohnung zu schauen.
"Nee, aber der kommt bestimmt noch. Bist du dieser Sänger?"
Leo war nicht ganz sicher, ob Ravi von ihm erzählt hat, aber er nickte vorsichtshalber.
"Komm rein, machs dir gemütlich. Willst du was trinken?", sagte der Lockenkopf und machte den Weg frei. Leo hatte diese Gastfreundlichkeit nicht erwartet, war aber froh, dass er so empfangen wurde.
"Klar", sagte Leo während er den Flur entlang in das Wohnzimmer ging. Hier stand ein riesiges Sofa. Die Wand zu einem angrenzendem Zimmer war halb durch eine Glasscheibe ersetzt worden und hinter ihr lag ein kleiner Raum, welcher mit Tonschützen ausgekleidet war und zwei Hocker und ein Mikrofon beinhaltete. Im Gegensatz zum schäbigen Treppenhaus schien sich hier richtig Mühe gegeben worden zu sein.
Vor der Glaswand stand ein Mischpult. Außerdem konnte Leo in der Ecke des Raumes ein Keyboard ausmachen, einige Gitarren, die an der Wand angebracht worden sind, und einige Teile eines Schlagzeuges standen hier und da im Raum.
Er ließ seinen Blick wieder zu dem Sofa schweifen, auf dem schon zwei Personen saßen. Ein Junge, mit blau getönten Haaren, die ihm wie Stacheln vom Kopf abstanden und zu Leos Verwunderung ein Mädchen. Sie sah nicht aus, als ob sie in diese Szene gehören würde. Sie hatte langes, braunes Haar und trug ein braunes, schulterfreies Top. Als sie ihn bemerkte, schaute sie zu Leo hoch und lächelte ihn an. Sie war wirklich hübsch.
"Das ist Yeomi". Der Typ, der Leo die Tür geöffnet hatte, war zurück gekommen und deutete nun auf das Mädchen. Er drückte Leo ein Bier in die Hand und warf sich neben den Jungen mit den blauen Haaren.
Leo bemerkte seinen Fehler dem Getränk zugestimmt zu haben, da er jetzt mit einem billig Bier in der Hand dastand, wobei er doch eigentlich nicht so gerne Alkohol trank. Der Höflichkeit halber nahm er aber einen Schluck und hatte Mühe bei dem bitteren Geschmack nicht das Gesicht zu verziehen.
Yeomi klopfte auf das Sofa und machte eine Geste, dass Leo sich hinsetzen sollte. Er ging der Bitte nach und wurde sofort mit einem Handschlag des Blauhaarigen begrüßt.
"Das ist E.Joo". Sagte der Lockenkopf. Er legte locker seinen Arm um E.Joo und nahm einem großen Schluck aus der Flasche.
"Mein Künstlername ist Zicci. Kannst mich aber auch Taebin nennen". Er lächelte und zeigte damit einen guten Ausblick auf eine Reihe schiefer Zähne.
"Und du?", Yeomi hatte sich nach vorne gelehnt und schaute Leo fragend an.
"Leo". 
"Ah, stimmt. Ravi hatte deinen Namen glaub' ich erwähnt. Ist das 'n Künstlername? Sänger haben doch normalerweise sowas nicht".
Taebin kratzte sich am Kopf.
"Oder bist du sowas wie 'n Idol?", fragte E.Joo und das war damit das erste, was er sagte. Er hatte eine erstaunlich tiefe Stimme.
"Nee, das ist einfach nur ein Spitzname", erwiederte Leo und lachte.
"Hätt' ich mir auch nicht vorstellen können, ehrlich gesagt. Ravi meinte du seist anders als die anderen. Das du nicht für den Fame singst". Taebin nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche.

Anders.

Leo wurde etwas unbehaglich bei dem Gedanken daran, dass Ravi so überzeugt von Leos Verbindung zu der Musik sei. Trotzdem fühlte er sich geschmeichelt, dass er soviel von ihm erzählte. Das Interesse an ihm machte ihn glücklich.
Leo zuckte mit den Schultern und lächelte. Er war sich nicht ganz sicher, was er darauf antworten sollte. Er schaute auf den Boden und eine peinliche Stille kehrte ein.
Er fühlte sich mehr als erlöst, als er die Klingel hörte.

Ravi. Endlich.

"Yo!", der weißhaarige ließ seine Tasche fallen und warf seine Jacke auf das Keyboard.
Sein Blick schweifte zu Leo und Leo war sich sicher, dass seine Augen für einen kurzen Moment anfingen zu funklen.
"Sorry, das ich erst jetzt komm'", sagte er in die Runde.
B.Joo stand auf und schlug mit Ravi ein. Taebin hob seine Flasche und nickte ihm zu.
Ravi warf sich neben Yeomi auf das Sofa und legte einen Arm um das Mädchen, während er es sich gemütlich machte. Leo war verwirrt von dieser Geste und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Sind die beiden ein Paar?
Er drehte die Flasche in seiner Hand. Sein Bauch kribbelte und in seinem Kopf begann es sich zu drehen. Was ist das für ein Gefühl?
"Du kannst immer vorbei kommen wenn du magst". Ravi steckte sich eine Zigarette an.
"Wir treffen uns hier meistens um zu chillen, aber das Studio wird auch genutzt".  Er deutete auf den Raum hinter der Glaswand.
"'Kannst hier immer was aufnehmen. Sag nur kurz Bescheid".
Ravi nahm einen Zug und spielte mit der anderen Hand in Yeomis Haaren. Das verwirrte Leo nun noch mehr und löste zugleich einen kleinen Schmerz in seiner Brust aus.

Leo blieb noch eine Weile. Auch wenn er Anfangs ein eher unbehagliches Gefühl hatte, machte es ihm im Endeffekt doch Spaß, sich mit den anderen zu unterhalten. Er erfuhr, dass Taebin und Yeomi Geschwister sind und das deren Vater das Studio gehörte, ein angesehener Producer in der Undergroundrapper-Szene. E.Joo hatte Leo außerdem sein Mixtape mitgegeben und einige Freestyles präsentiert. Er war echt gut. Leo hätte aber eigentlich lieber Ravi rappen gehört. Dieser hingegen hatte sich nicht viel an den Gesprächen beteiligt. Er war anders als damals, damals, als er mit Leo an der Reling gestanden hatte und ihn von seinen Gefühlen erzählte. Jetzt wirkte er eher dessinteressiert. Doch Leo hatte das Interesse nicht verloren.
Ravi erwähnte aber beiläufig, dass er neben dem Rappen zur Uni ging.
Leo konnte sich Ravi niemals an so einem Ort vorstellen. Vielleicht war es das, was ihn so interessant machte. Die verschiedenen Seiten, die der außenscheinlich kalte Rapper an sich hat.
Leo wollte mehr sehen. Mehr dieser Seiten von Ravi. Das Feuer in seinen Augen, die Leidenschaft zur Musik und der schnelle Lebensstil, den er nach Außenhin vorgab. Das Gefühl, welches sich in Leo ausbreitete, wenn Ravi ihn anschaute und das Brennen in Leos Magen, wenn er an ihn dachte. Mehr.

Leo wollte mehr.

Meine letzte Lüge (LxR)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt