sixth lie

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Leo zog sich den Kopfhörer aus dem Ohr.
"Wow."
Ravi lächelte.
"Nein, wirklich, richtig krass! Die Lyrics sind echt Bombe. Hast du das auch selbst komponiert?"
Ravi nickte und schaute lachend und leicht verlegen zu Boden.
"Du hast echt Talent. Dass du noch niergends unter Vertrag stehst wundert mich", sagte Leo immer noch verblüfft.
Ravis Ausdruck wurde wieder ernst.
"Ich würde meine Seele niemals für die Musik verkaufen".
Er schaute Leo nun direkt in die Augen. Seine Worte klangen, als wäre er sauer. Aber wieso? Hatte Leo etwas falsches gesagt?
"Ich hab' schon einige Anfragen bekommen. Ich will das aber nicht."
Ravi klang jetzt wie ein Kleinkind, das nicht ins Bett gehen wollte.
„Musst du ja auch nicht. Sorry, das sich so angehört hat", sagte Leo.
"Keine Sorge. Viele verstehen das einfach nicht." Ravi lächelte wieder.
Leo schaute auf die Uhr. Es waren schon über zehn Minuten vergangen und es war gleich zwanzig vor acht.
"Den Auftritt verpassen wir wohl", sagte Ravi mit einem pessimistisch.
Sie hätten es sicherlich noch geschafft, vielleicht etwas zu spät, aber Ravi schien das ganze schon abgeschrieben zu haben. 
"Wollen wir trotzdem noch was unternehmen?", fragte Leo gerade heraus.
"Ich wohn' hier in der Nähe. Ich kann dir noch 'n paar meiner Kompositionen zeigen", sagte Ravi, während er sich von der Bank erhob.
"Nur wenn du Bock hast, natürlich", fügte er hinzu.
Leo nickte und sein Herz machte Saltos in seiner Brust. Was war das schon wieder für ein Gefühl? Eine einfache Einladung eines Kumpels.
Zum Musik hören.
Zum Chillen.
Nichts weiter.

Der Weg zu Ravis Wohnung kam Leo wie eine Ewigkeit vor. Sie lag tatsächlich zu Fuß vielleicht höchstens 15 Minuten entfernt, aber Leos wirre Gedanken erschwerten den Weg für ihn ungeheuer.
Ravi lebte in einer Mietswohnung, wie es für diese Gegend üblich war. Sein Apartment lag im dritten Stock eines Altbaus, es gab also keinen Aufzug.
Leo störte das nicht weiter, da er so das Treppenhaus und Ravis Wohnumstände näher betrachten konnte. Anders als das Treppenhaus von Leos Haus war es hier nicht sonderlich aufgeräumt und es schien den Hausmeister, falls es einen gab, nicht zu kümmern. Neben einigen Türen standen Müllbeutel oder Fahrräder, Berge von Schuhen und alte Zeitungen.
Endlich waren sie an Ravis Wohnungstür angekommen. Bis auf eine Fußmatte auf der "Welcome" stand gab es hier nichts.
Ravi fummelte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete die Tür.
"Kannst' deine Schuhe anbehalten", sagte er während des Reingehens. Er warf seine Schlüssel auf einen Hocker neben der Tür und schaltete das Licht ein.
"Ist 'bisschen unordentlich hier. Ich empfang eigentlich nicht so gerne Leute bei mir."
Leo wusste nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte, dass gerade er der Auserwählte sein durfte oder ob er einfach nur ein ungewollter Gast war.
Er folgte Ravi ins Zimmer.
Leo schaute sich um. Der Raum, indem sie sich befanden, war Wohn- und Esszimmer zugleich. Ein Tisch mit einigen Barhocker stand in einer Ecke des Zimmers. Diese dienten aber eher als Ablage für Klamotten, als als Sitzmöglichkeitem.
Das interessanteste Objekt in diesem Raum war aber wohl das riesige weiße Klavier, welches am anderen Ende des Raumes stand. Es sah sehr teuer aus und war nichts gegen das kleine Klavier, welches Leo bei sich zu hause stehen hatte.
Es gab zudem noch ein Sofa und einen Fernseher, der sporadisch in einem umgebauten Bücherregal untergebracht wurde. Das wars an Möbeln. Der riesige Raum hatte nicht mehr viel zu bieten, außer zwei Poster, die über dem Klavier klebten, und Stapel von Magazinen und CDs, die sich neben dem Sofa türmten.
Neben dem am Flur angrenzenden Badezimmer gab es noch zwei weitere Räume. Eine dieser Türen war schwarz gestrichen.
"Willst' was trinken? Keinen Alkohol versteht sich", sagte Ravi grinsend.
Leo lächelte aber schüttelte den Kopf. Er freute sich, dass Ravi sich daran erinnert hat, dass er keinen Alkohol trinkt.
"Spielst du Klavier?", fragte Leo und deutete auf das Piano.
Ravi hob eine Hand hinter seinen Kopf.
"Ein wenig. Gehört halt irgendwie zum Komponieren dazu."
Leo ging auf das Klavier zu und entdeckte ein Notizbuch auf dem geschlossenen Tastenschutz.
"Compositions n shit".
Leo musste bei dem Titel schmunzeln und noch bevor er was sagen konnte, nahm Ravi das Buch.
"Sind nur 'n paar Ideen".
"Kannst du mir was zeigen?", sagte Leo und deutete erneut auf das Piano.
Sichtlich verlegen nickte Ravi und setzte sich auf den Hocker vor dem Klavier. Er schob den Tastenschutz nach oben.
Er spielte einige Töne an. Sie waren sehr tief und dunkel im Ton, aber Leo gefielen sie.
Zu seiner Verwunderug wurde Ravi immer langsamer und verspielte sich einige Male.
Er lachte und lehnte sich zurück.
"Sorry. Hab das Spielen noch nicht so drauf, um ehrlich zu sein."
"Hast du die Noten dazu?", fragte Leo daraufhin.
Ravi schüttelte den Kopf.
"Ich spiel' immer irgendwas und merk mir dann die Reihenfolge. Wenns mir gefällt, schreib' ich's mir auf".
Leo lehnte sich über Ravis Schulter.
Er spürte seinen Atem.
"Spiel nochmal", sagte er und beobachtete Ravis Hände. Sie waren steif beim Spielen und er hatte Schwierigkeiten, die Töne richtig zu koordinieren.
"Du musst deine Hände sanfter bewegen", sagte Leo und legte seine Hände auf Ravis.
Sie waren warm.

Heiß.

"Versuch über die Tasten zu streichen", erwähnte Leo, als er die Hand des anderen auf die Tasten führte. Er spürte wie Ravis Hände unter seinen langsam ruhiger wurden.
Sanft spielten sie die Töne an, gemeinsam.
Ravi drehte seinen Kopf zu Leos und schaute ihm in die Augen.
Leos Herz pochte.
Das Feuer in Ravis Augen brannte hell.
Gerade, als Leo seine Hände wegziehen wollte, drehte Ravi seine Handfläche zu Leos und umschloss seine Hand fest.

Heiß.

Ravis Blick schweifte zu Leos Lippen. Sanft entzog er seine Hand dem Griff, nur um aufzustehen, sich zu Leo umzudrehen und seine Hand wieder zu ergreifen. Die andere führte er zu Leos Gesicht.
Als Ravis Finger sanft über seine Wange strichen schossen kleine, immer stärker werden elektrische Schläge durch Leos Körper.
Er umklammerte Ravis Hand fest. Sein Herz schlug so schnell, dass es sicher gleich explodieren würde, dachte Leo.
Er lehnte sich nach vorne. Noch einmal betrachtete er das Feuer in Ravis Augen bevor er seine Augen schloss.
Die elektrischen Schläge wurden stärker, fast schon unerträglich. Doch er wollte mehr.

Mehr.

Der Moment, in dem Leos Lippen Ravis berührten war der Moment, in dem sein Herz in zwei Teile zersprang.

Es war der Moment, in dem sich weiß in Leos schwarze Welt mischte.

Meine letzte Lüge (LxR)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt