third lie

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Die Lichter gingen aus und das Publikum wurde allmählich still.
Als dann die Scheinwerfer eingeschaltet wurden, kehrte endgültig Ruhe im Saal ein. Leo räusperte sich, bevor er den Mikrofonständer mit beiden Händen fest umklammerte und sich nach vorne lehnte. Das kühle Metall des Mikrofonkopfes berührte sanft seine Oberlippe, als der erste Takt des Liedes angestimmt wurde.
Neben ihm begannen zwei seiner Kollegen im Chor die ersten Verse zu singen.
Leo zählte die Sekunden bis zu seinem Part. Es war nur ein kurzer, und er sang ihn im Duett. Dafür hatte er aber am Ende seinen großen Autritt. Er sang den letzten Refrain alleine. Seine Stimme passte am besten zu der hohen Lage, in der der originale Sänger das Lied ausklingen lässt. Besonders das Gefühl, welches Leo in seiner Stimme hat, sei so besonders und passend zu dem Lied, meinte sein Gesangslehrer zu ihm.
Der kurze Part mit dem Duett war ein Leichtes für Leo. Mit anderen zu singen ließ ihn eine Harmonie, eine Sicherheit spüren.
Alleine zu singen war für ihn aber anders. Wenn er alleine sang, sang er nur für sich. Früher hat er versucht, seinen Gesang in eine Botschaft an das Publikum zu verwandeln. Er hatte versucht, mit seinen Worten jemanden zu erreichen. Das konnte Leo aber irgendwann einfach nicht mehr. So zu singen, - das war einfach nicht er.
Wenn er das tat, fiel es ihm umso schwerer, der Musik selbst zu folgen. Wenn er die Worte hörte, die er sang, war es keine Musik mehr.
Er wollte sich nur auf die Töne konzentrieren. Den Einklang von verschiedenen Höhen und Tiefen der Musik, die im Zusammenspiel mit seiner Stimme ein Bild aus Synphonie und Harmonie ergaben, welches so schnell es erklang, auch wieder verklang.

Er sang für niemanden.

Leo sang nur für sich.

Stille. Die schnelle Melodie des Liedes war nun langsamer geworden.
Er schloss die Augen. Leicht öffnete er seine Lippen und konnte spüren, wie seine Stimmbänder vibrierten, als er den ersten Ton anstimmte.
Sein Part war der emotionalste des ganzen Liedes und endete damit, dass alle gemeinsam die letzten Töne sangen.
Die Musik verklang.
Leo öffnete wieder die Augen. Seine Sicht, die eben noch in undendliche Dunkelheit gehüllt war, wurde nun mit einem grellen Licht bedeckt, welches Leo seine Augen zusammenkneifen ließ. Es fiel ihm schwer, die Gesichter im Publikum zu erkennen, aber das brauchte er auch nicht. Er hörte ihren Applaus. Ihre jubelnden Zurufe.
Leo ließ seinen Mikrofonständer los und ging mit den anderen nach vorne um sich zu verbeugen.
"Das waren einige Schüler der Jibon-Gesangschule. Als nächstes folgt die Tanzgruppe TheHeist, viel Spaß!"
Gerade als er die Bühne verließ, fiel Leo etwas ein.
Ravi.
Leo hatte nur kurz einen Blick über das anwesende Publikum schweifen lassen. Wenn der Weißhaarige dort  gestanden hätte, hätte Leo das sicher mitbekommen.

"Gut gemacht!", sagte einer seiner Mitschüler und klopfte ihm auf die Schulter, als sie von der Bühne in einen angrenzenden Raum, der als Umkleide für die Acts diente, gingen.
"Das war wirklich geil! Habt ihr gesehen wie die alle ausgerastet sind?"
"Lasst und darauf erst mal ein' Trinken gehen. Ich geb ne' Runde aus".
"Ich komm nicht mit", sagte Leo lächelnd und hob seine Hände abweisend vor seinen Körper. Seine Gedanken waren woanders.
"Gestern war mir genug. Ich muss mich ausruhen. Aber viel Spaß euch", fügte er noch hinzu und schnappte sich seine Jacke und seine Tasche.
"Dann verpasst du aber was", sagte ein anderer Junge und lachte.
"Ich bin echt müde. Sorry", erwiederte Leo im Gehen. Er versuchte ein weiteres Gespräch zu vermeiden, da seine Gruppe es dann doch meistens schafft, ihn zu überreden.
Leo schloss leise die Tür der Umkleide und befand sich nun am Rand des Saals. Es war so voll, dass viele Leute stehen mussten, da alle Plätze besetzt waren. Trotzdem hätte er ihn sehen müssen. Diese Augen - nie hätte Leo diese übersehen können.
Er bahnte sich also seinen Weg durch die Masse. Als er endlich an der Eingangstür angekommen war spürte er eine Hand auf seinem Rücken.
"Krass. Ich wusste nicht, dass du so gut singen kannst".
Leo drehte sich um. Hinter ihm stand ein junger Mann. Er trug eine schwarze Kappe unter der nur strähnenweise seine weißen Haare zum Vorschein kamen, weshalb er ihn nicht sofort erkannt hatte.
Ravi.
"Wo sind denn die anderen?", fragte Ravi und drehte sich suchend um.
"Gehen noch was Trinken".
"Du nicht?"
"Ich feier nicht so gerne".
"So ein Auftritt gehört doch aber gefeiert! Das war echt geil", sagte Ravi nickend.
"Danke". Leo lächelte.
"Dein Name war noch gleich..?"
"Leo".
"Ah, richtig. Kein Feiern, aber hast du vielleicht noch Lust, was Essen zu gehen? Bin eigentlich nur für euch gekommen. Keine Lust hier noch weiter rumzuhängen".

Meine letzte Lüge (LxR)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt