Want

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Exakt ein Jahr und zehn Tage sind vergangen, seitdem Cecile zum ersten Mal dem Toten inmitten des Waldes begegnet ist. Zu ihrem Missfallen hat ihre Familie damals, gleich am darauffolgenden Morgen beschlossen, dass Nachhilfe in den Sommerferien besser als beinahe verloren zu gehen für das Mädchen wäre und sind abgereist. Im Vorbeifahren hat sie sich eingebildet, dass Harry am Rande der Bäume steht und ihr zuwinkt. Doch nach einem Hinweisen auf die Gestalt hat ihre kleine Schwester mitsamt ihren Eltern sie für verrückt erklärt und prompt war ein weiterer Grund gegen das Leben im Dorf geliefert.

Erst nach täglichem Bitten, das schon beinahe als Flehen bezeichnet werden kann, haben Ceciles Vormunde ihrem Wunsch, für eine einzige Woche zurückzukehren, nachgegeben. "Das ist auch mein einziger Geburtstagswunsch dieses Jahr", hat das Mädchen in weinerlicher Stimme gesagt. Auf die Frage, ob sie nicht lieber eine Party mit ihren Freundinnen haben will, hat sie erst recht auf die Tränendrüse gedrückt und laut verneint.

Daher stapft das Mädchen nun, exakt ein Jahr und zehn Tage nach der Begegnung mit Harry, zielsicher in den Wald, auf dem selben Weg, den sie auch damals bestritten hat. Ein großes Stück Torte – genauer gesagt Schokoladentorte, ihre Lieblingssorte – auf einem Plastikteller in ihren Händen und einem Rucksack auf ihren Schultern, gefüllt mit diversen Dingen, bei denen sie hofft, dass sie dem jungen Mann gefallen würden.

„Harry, ich bin's, Cecile", ruft sie, nachdem sie das Dorf und somit die anderen Menschen weit genug hinter sich gelassen hat. Sie sieht sich im Wald um, versucht, zwischen den unzähligen, dicken Baumstämmen und strahlend grünen Sträuchern eine Person auszumachen. Doch es bleibt still um sie, keine tiefe Stimme meldet sich zu Wort.

Ihre nach wie vor kindliche Seite kommt zum Vorschein, Ungeduld macht sich in ihr breit und sie seufzt laut sowie gespielt auf. „Ich habe sogar Kuchen mitgebracht, gestern war mein Geburtstag", teilt sie niemandem mit, in der Hoffnung, dass sie den Geist somit hervorlocken könnte. Wer würde denn schon nein zu Schokoladentorte sagen?

„Das war früher meine Lieblingssorte", meldet sich plötzlich jemand zu Wort und Cecile wirbelt herum, beinahe fällt ihr der Teller aus den Händen. Wie bei der ersten Begegnung mit Harry, befindet sich ein Mann wenige Meter hinter ihrem Rücken.

Doch dessen Augen strahlen nicht wie hellgrüne Edelsteine, nein, sie scheinen in eine endlose, schwarze Ungewissheit zu führen. Seine Haare berühren nicht seine Schultern und erinnern das Mädchen auch nicht an ihre liebste Süßigkeit. Kurze Strähnen, so dunkel wie seine Pupillen, liegen wirr auf seinem Kopf, als wäre er soeben erst aufgewacht. Der Fremde wirkt dünn und schlaksig, wie eine gekochte Spaghetti – wie Cecile es beschreiben würde.

Das Grinsen auf seinen Lippen ist nicht freundlich wie das von Harry, es strahlt Boshaftigkeit und Schadenfreude aus, als er sich ihr langsam nähert. Seine Schritte sind vorsichtig gewählt, wie die eines Raubtieres, das der Beute gegenüberstehen würde. Er kratzt sich über die Unterarme, die Haut ist dunkel, wie der Milchkaffee, den Ceciles Mutter jeden Morgen trinkt.

„Hast du etwa Angst vor mir, kleines Kind? Du wirkst mir so starr", bemerkt der Fremde und bleibt direkt vor dem Mädchen stehen. Dieses wagt es nicht, sich auf den Fersen umzudrehen und schreiend wegzurennen, wie es ihr Instinkt ihr befiehlt. Auch nicht, als er die rechte Hand hebt und die Fingerspitzen über ihre linke Wange gleiten lässt, eine einzelne Strähne hinter das Ohr schiebt.

Er neigt den Kopf leicht zur Seite blinzelt mehrere Male, bevor er hinzufügt: „Rede doch endlich, ich möchte deine Stimme noch einmal hören, sie klingt so weich wie Samt." „Wer bist du?", haucht Cecile und spricht somit den ersten Gedanken aus, der in ihrem Kopf herumwirbelt.

Düster und sinister lacht der Mann auf und lässt somit wie durch Magie die Luft um sie abkühlen. Gänsehaut bilden sich auf ihren Armen und sie erzittert. „Ich bin jemand, der die Gesellschaft eines Mädchens wie du es bist vermisst", raunt er und beugt sich hinunter, um auf einer Augenhöhe mit ihr zu sein.

Touch / h.sWo Geschichten leben. Entdecke jetzt