Candy

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Oh gott. So hatte ich ihn mir GAR NICHT vorgestellt. Er hatte die Tür erreicht und lehnte sich lässig mit einem Arm an sie.
Ich musterte ihn von Kopf bis Fuß und muss zugeben, dass ich ein bisschen Angst hatte.
Er war der totale Punk. Abgeranzte Doc Martens, eine zerfetzte schwarze skinny Jeans mit Silberketten, überall befestigt. Am Oberkörper trug er auf ein schwarzes T-Shirt eine Lederjacke, die ebenfalls mit jeglichen Ketten verziert war. Nun zu seinem Gesicht: Ehrlich gesagt war dieses, aufgrund massenhafter Piercings kaum zu erkennen. Eyeliner unter die Augen geschmiert und weiß gefärbte Haare, die in alle Richtungen zeigten. Die Seiten waren abrasiert, so dass man die Tunnel in seinen Ohrläppchen besser betrachten konnte.

"Starr mich nicht an, ich weiß wie ich aussehe und du brauchst mir mit deinen Blicken nicht klar machen, was du davon hälst." sagte er. Wow. Wenn Blicke Töten könnten...
"Ich hab nicht gestarrt. Wirklich nicht. Ähm also wir sollten noch einmal neu starten. Ich bin Charlie."
"Ahh ok. Komm."
Er schaute mich ohne Emotionen an. Doch nicht in die Augen. Es fühlte sich an, als würde er durch mich hindurch schauen. Als wäre ich nur Luft und er behandelte mich auch so. Mein soeben noch strahlendes Gesicht, schien nun alle Fröhlichkeit zu verlieren.
Er ergriff meine Hand und zog mich ruckartig aus dem Raum. Wir standen vor dieser Tür in diesem Gang und erst jetzt wurden mir die Nachteile dieser Möglichkeit bewusst. Ich musste neue Menschen kennenlernen... Ich kam auch gut ohne Freunde aus, denn das kannte ich nur all zu gut. Ja, ich war eher so der Einzelgänger. So formulierte ich es zumindest. Die Anderen nannten es Nerd, Loser. Den üblichen Kram.

Erst jetzt bemerkte ich, wie ich in meinen Gedanken gefangen, wie angewurzelt stehen blieb. Mit eingefrorenen Blick auf den Boden. Candy hatte mich mittlerweile losgelassen und guckte mich nun verdutzt an.
"Hallo?! Geht's dir gut? Ich sagte komm"
"Was? Oh ja sorry. Ich bin jetzt ganz bei dir. Ich hab' nur ein bisschen getagträumt."
Er glotzte mich verwirrt an, bis er mit den Schultern zuckte und in relativ zügigen Tempo weiter lief. Ich folgte ihm, wie Entenbabys ihrer Mutter. Wieder in den Aufzug: Diesmal Erdgeschoss.

"Ok. Zuerst zeig ich dir die Klassenräume, es gibt genau fünf."
"Das sind aber echt wenige. Wie viele Schüler sind wir überhaupt?"
"Ebenfalls acht und du bist die Letzte. Alle anderen sind schon eingetroffen."
"Mh. Achso."
Immerhin ein Lichtblick: Nicht so viele neue Gesichter!
"Ach und übrigens. Ich werde dir zu den Räumen nichts sagen. Sie sind selbsterklärend. Eigentlich bin ich nur dafür da, dass du dich hier nicht verläufst." Er schmunzelte leicht.

Wir gingen weiter einen Flur entlang und ich schwöre, der sah genauso aus wie die anderen auch. Die beiden Wände zu unserer Seite waren wie gespiegelt. Jeweils zwei Türen und ganz hinten eine. Diesen Raum betraten wir zuerst.

Es war ein kleiner Raum mit acht Plätzen. Jeder Tisch war mit einem Tablet aus gestattet und zu meiner Verwunderung waren es keine normalen Stühle. Es waren riesige Sitzkissen. Vorne gab es, wie in jeder Klasse eine Tafel.

Das nächste Zimmer war schon fast eine Halle. So etwas ähnliches wie eine Sporthalle, schätze ich. Gerade hingen Seile von der Decke. Hinten lagen in Körben allerlei Bälle von Volleyball bis Tennis. An einer Wand waren zwei Tore, wo warscheinlich alle möglichen Sportgeräte gelagert wurde. Wie gesagt: Eine Sporthalle.

Danach ging es für mich in den Himmel: Mein Gesicht sah aus wie als hätte man es in einen Topf voller Freude und Glück gesteckt. Ein Flügel, Akustik und E-Gitarren, E-Bässe, Schlagzeug, Geige, Mikrofone usw. Alle Instrumente, die man sich nur wünschen konnte. In der Mitte des Raumes war genug Platz um einen meiner Wohnzimmertänze aufzuführen. Dazu muss man sagen, dass diese... naja... sehr viel Platz einnehmen. Dazu auch noch eine fette Stereo Anlage und völlig unpassend wieder eine Tafel. Am liebsten wäre ich ewig da geblieben, doch Candy zeigte mir mit einer merkwürdigem Handgeste, dass wir weiter gehen.

Wow. Ich fühlte mich in diesem Raum, wie bei einer Selbsthilfegruppe. Acht gemühtliche Sessel waren in einen Kreis gestellt, der mit hellem Holz ausgelegte Raum war geprägt von rosa und orange mit Deko und Pflanzen. Abstrakte Gemälde hingen an den Wänden.

Jetzt der letzte Raum. Als wir die Tür öffneten staunte ich. Ein Garten. Man hörte Bachplätschern und Vogelgesänge, sah Bäume. Es war eine Art Wald in einem Raum und auch relativ groß. Ein matschiger Erdboden. Irgendwie war es hier so entspannend. Ich wollte mich hinsetzten und die Zeit anhalten, doch das gefiel Candy nicht. Gerade als ich auf einem Baumstumpf Platz nahm, zog er mich wieder am Arm.

"So, dass wärs dann auch an Klassenräumen. Ich würde dich dann jetzt hoch zu den anderen bringen in den Gemeinschaftsraum. Ich hoffe, vorstellen kannst du dich alleine. Außerdem bin ich dich dann endlich los"

Er zwinkerte. Ich nickte. Candy war mir leicht suspekt. Genervt von der einen auf die andere Sekunde. Sehr gesprächig, war er auch nicht. Was war Candy überhaupt für ein Name? Doch ich wollte nicht vorschnell urteilen und er war mir ja nicht vollkommen unsympatisch.
Wieder im Aufzug angekommen, fuhren wir dieses Mal nur eine Etage hoch.
Mit jedem Schritt den wir näher kamen stieg meine Nervosität. Ich wusste nicht, wie lange ich hier blieb. Hoffentlich würde ich es nicht wieder versauen.

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