Kapitel 2

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Ein Paketband verschloss seinen Mund, aber auch ohne dieses, hätte der Junge keinen Laut von sich geben können. Alles war zu schnell gegangen. Sie hatten ihn auf eine Stahltrage, eine solche auf der er auch schon einmal lag, als er sich das Bein gebrochen hatte und mit dem Krankenwagen zur Klinik transportiert wurden war, gelegt. Nur war die Trage von damals weich gepolstert und nicht wie die jetzige mit dicken Lederriemen zum Fesseln versehen. Paul hatte sich fieberhaft gewehrt, doch er hatte keine Chance gehabt. Seine Hand- und Fußgelenke wurden mit festen Griff an den kalten Stahl gezerrt und dort mit dicken Lederriemen befestigt. Um seine Brust wurde eine Art ledernes Korsett geschnürt, welches ebenso an der Trage befestigt wurde. Er hatte versucht sich zu winden und seinem Gefängnis in irgendeiner Art und Weise zu entkommen. Fast hätte er es geschafft seine rechte Hand aus einem etwas lockereren Riemen zu ziehen. Aber als sie es bemerkten, zogen sie denselben wieder fest und befestigten noch zur Sicherheit einen weiteren Riemen an einer Öse unter seinem Nacken und legten diesen Paul um den Hals. Wenn er sich weiter gewehrt hätte, hätte er sich selbst stranguliert. So musste er sich geschlagen geben. Er war in einen dunklen Transporter gebracht wurden. Im Zwielicht konnte er andere Jugendliche erkennen, die wie er gefesselt auf der jeweiligen Trage in einer regalähnlichen Befestigung lagen. Die Männer legten ihn auf ein freies Regelbrett. An den Ecken seiner Trage konnte er Ösen erkennen, welche zusammen mit dem Ösen des Regelbrettes eine Einheit bildeten, durch welche man Trage und Regal mit einem Vorhängeschloss verbinden und sichern konnte. Eine Flucht war unter all diesen Umständen völlig ausgeschlossen, was Paul jetzt realisierte. Er war seinen Entführern komplett ausgeliefert. Was hatten sie nur vor? Wozu stiegen sie in ein Haus ein um einen fünfzehnjährigen Jungen zu entführen? Lange lag der Junge da, zerbrach sich den Kopf über seine Zukunft und konnte sich nicht rühren, bis ihm nach einer gefühlten Ewigkeit die Augen zu fielen.

Ein grelles Licht weckte ihn aus dem Schlaf. Jemand leuchtete ihm mit einer Taschenlampe direkt in die Augen. Ein Mann murmelte etwas in einer unverständlichen Sprache. Dann spürte Paul einen stechenden Schmerz in seinem Oberarm und es wurde wieder alles um ihn herum dunkel.

Ein Knall ertönte. Ein großer Ruck. Kompletter Stillstand folgte. Das Motorengeräusch, welches ihm seit Stunden in den Ohren lag war verstummt. Ein stechender Geruch. Plötzlich wurde die Tür des Transporters aufgerissen. Licht flutete den Raum. Paul kniff die Augen zusammen bis sich diese sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Endlich konnte er alles sehen. Um die zwanzig Jugendlichen, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten umsahen, drei Männer, welche sich außerhalb des Kofferraums in einer fremden Sprache wild gestikulierend unterhielten und den Wald hinter ihnen. Der Wald. Er liebte den Wald. In mitten der Bäume  fühlte er sich wohl. Hier fühlte er sich frei. Wie schön wäre es doch dorthin gehen zu können! Die frische Luft, das Grün, der Gesang der Vögel - all das machte einen Wald zu einem einzigartigen Rückzugsort. Als er zehn Jahre alt war hatte er sich mit seinem Freuden hoch im Wipfel einer Kastanie in einem naturbelassenem Waldstück in der Nähe seines Wohnviertels ein kleines Baumhaus gebaut. Sie hatten ihr ganzes Taschengeld für Bretter, Nägel, Werkzeuge und was zum Bauen einer solchen Behausung nötig war ausgegeben. Nach der Hälfte der Sommerferien hatten sie ihr Projekt beendet und genossen inmitten der Zweige den leckeren Zitronenkuchen, den seine Mutter für sie gebacken hatte. Es war einer der schönsten Tage seines Lebens gewesen.

Silbrige Rauchschwasen rissen ihn aus seinen Gedanken. In die Ferne sehend sah er einen weißen LKW immer näher kommen. Ein Hoffnungsschimmer? Vielleicht würde der Fahrer den Transporter sehen, seine verrückten Entführer irgendwie aufhalten und ihn und seine Mitgefangenen befreien! Der LKW rollte langsam auf sie zu, bis er kurz vor ihnen zum Stehen kam. Ein älterer Mann stieg aus dem Führerhaus. Moment war das etwa... Opa! Die Männer schauten genauso erschrocken wie er selbst. Mit anderen Menschen hätten sie in dieser verlassenen Gegend nicht gerechnet.,,Was ist denn hier los?", fragte sein Opa impulsiv, als er den Transporter mitsamt Inhalt entdeckte. ,,Sie halten doch nicht ernsthaft die Kinder hier gefangen und ich habe sie ertappt?!", er zückte sein Handy, um die Polizei zu rufen. Aber dazu kam es nicht. Nach einem kurzem unverständlichen Wortwechsel, rannte einer der anderen Männer auf Pauls Opa zu. Der Mann schlug ihm das Handy aus der Hand und es schlug klirrend auf dem Boden auf. Dann packte er den älteren Mann und drehte ihm einen Arm auf den Rücken, noch ehe dieser reagieren konnte. Pauls Opa versuchte sich zu wehren und schlug wild um sich, doch als nun auch noch der zweite und dritte Mann ihren Komplizen zu Hilfe eilten, hatte er keine Chance mehr zu entkommen. Wenige Sekunden später lag er wie Paul und die anderen Jugendlichen gefesselt und geknebelt auf einer Stahltrage. Die Männer lachten, als sie ihn in den letzten freien Platz des Regals schoben. Seine Augen leuchteten erschrocken auf, als er sein Enkel nicht weit von ihm erkannte. Paul zwinkerte zurück. Ihm ging es den Umständen entsprechend gut. Sein Großvater gab ein Stöhnen von sich. Die Männer hatten nun endlich einen Ausweg aus ihrer misslichen Lage gefunden und luden ihre gestohlene Fracht in den LKW der ihnen nicht gehörte. Sie hatten Glück, dass die Regale Rollen besaßen, sonst wäre dies ein schwieriges Unterfangen geworden. Als Pauls Regal hinüber geschoben wurde, konnte er in den Frachtraum sehen. Sein Großvater transportierte große Landungen an Mehl. Anscheinend war er gerade auf der Rückfahrt zur Fabrik gewesen, denn bis auf dem weißen Bodenbelag war kein Mehl zu sehen. Regal nach Regal wurde hineingeschoben. Dann schlossen die Männer unter heißerem Gelächter die Heckklappe. Der Frachtraum war nicht ganz lichtdicht abgeschlossen, sodass Paul langsam beobachten konnte, wie je weiter und länger sie fuhren das Licht immer schwächer wurde.

Seit einer gefühlten Ewigkeit fuhren sie nun schon. Pauls Mund war ganz trocken, seit dem gestrigen Abend hatte er weder etwas  gegessen noch etwas getrunken. ,,Sie können uns doch nicht erst aus den Häusern entführen und uns dann verhungern und verdursten  lassen, oder?", fragte er sich. Plötzlich verstummte der Motor. Er hörte das Knallen der Tür, welche an das Fahrerhaus geworfen wurde. Ein paar Schritte und dann öffnete sich die Heckklappe und die Männer traten herein. Über ihnen leuchteten die Sterne. Sie traten an ein Regal und schoben es ins Freie. Es dauerte lange bis sie wieder kamen, aber dann traten sie an Pauls Regal und rollten es langsam die Laderampe hinunter. Er zitterte und das lag nicht nur an der Kälte. Der Junge hatte schreckliche Angst. Es plagte ihn die Ungewissheit, wie es nur mit seinem Leben weitergehen würde.

Paul sah sich im Rahmen seiner Möglichkeiten um und realisierte, dass er sich auf einem Parkplatz vor einem großen Gebäude befand. Soweit er es im Schein der einen Straßenlaterne erkennen konnte, die einsam den wenigen parkenden Autos ein wenig Licht spendete, war es eine alte Flughafenhalle. Überall wucherte das Unkraut an den Mauern hinauf. In den Wänden waren auch schon einige Risse zusehen, jedoch kein einziges Graffiti. Wahrscheinlich machte sich niemand die Mühe, hier wo es keiner bewundern konnte, die Wände zu verschönern. Langsam wurde er in Richtung des Eingangs geschoben. Durch eine quietschende Drehtür aus Glas gelangte er in den riesigen Raum. An den Seiten konnte man die Reklame von den kleinen Lädchen sehen, die zu belebteren Seiten hier ansässig waren. Die Rollen glitten leise über den steinernen Fußboden an den Check-In-Schaltern vorbei. Nicht weit entfernt konnte man die Absperrbänder der Sicherheitskontrolle erkennen. Sie fuhren direkt auf diese zu. Kurz bevor sie das Absperrband erreichten bogen sie in einen versteckten Seitengang ab., bis sie an eine Stahltür gelangten. An der rechten Seite dieser Tür befanden sich zwei Knöpfe mit Pfeilen, wovon der eine nach oben und der andere nach unten zeigte. Einer der Männer betätigte den unteren Knopf. Nach einem ,,Klang" öffnete sich die Tür und entpuppte sich als ein Fahrstuhl. Das Regal wurde hineingeschoben, die Tür schloss sich und sie fuhren los. Mit einem weißen Rauschen glitt der Fahrstuhl in die unteren Etagen. Nach ein paar Sekunden Fahrt öffnete sich die Tür wieder und sie gelangten in einen mit künstlichen Licht beleuchteten reinen weißen Flur. Nach ein paar weiteren Fluren und Türen eröffnete sich vor ihnen ein Raum mit einer großen Kuppel. Die war jedoch in der Mitte nicht geschlossen, sondern eine rote Spitze eines riesigen weißen Etwas ragte hinauf Richtung Himmel. Und nun endlich sah Paul wie sich seine unfreiwillige Reise fortsetzen würde: Sie standen am Fuß eines riesigen Raketenraumschiffes.

Am anderen Ende des Universums //PausiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt