Es waren erst wenige Minuten vergangen, seit Elrond Maracarwas Angebot abgelehnt hatte und die alte Lehrerin aus seinem Arbeitszimmer geworfen hatte, und doch bereitete ihm die ganze Sache immer noch Kopfschmerzen. Sie hatte die ungeheuerliche Unverschämtheit besessen, ihm vorzuwerfen, Bruchtal wäre nicht die richtige Umgebung um die kleine Eleniel in eine richtige elbische Lady zu verwandeln. Seine kleine Eleniel! Natürlich war sie schon lange kein Kind mehr und um ehrlich zu sein, wäre sie nach menschlichen Maßstäben bei ihrer Ankunft bereits als Jugendliche durchgegangen, aber für einen so alten Elben wie ihn war sie damals nichts weiter als ein Kind.
Als Gandalf vor dreihundert Jahren auf einmal mit diesem erstaunlichen jungen Mädchen vor seiner Tür stand, konnten Celebrian und er gar nicht anders als dieses arme unschuldige Ding bei sich aufzunehmen. Mit einem Lächeln dachte er daran zurück, als seine Frau versucht hatte Eleniel das Sticken beizubringen. Sie hatte sich schon lange eine Tochter gewünscht aber bis zu diesem Tag war ihr Wunsch nicht erfüllt worden. Trotz allem scheiterte ihr Versuch dem Mädchen den Umgang mit der Nadel beizubringen kläglich. Es endete alles damit, dass sich die Nadel irgendwo zwischen den Rosensträuchern befand, die unter dem Fenster des Salons wuchsen.
Nach all ihren Mühen, Eleniel das Gefühl zu geben, Teil ihrer Familie zu sein, wollte ihre Anstandsdame mit einer einzigen Reise alles zunichte machen. Sie hatte tatsächlich vorgeschlagen, zusammen mit Eleniel in den Grünwald zu gehen, um sie dort zusammen mit einem anderen jungen Mädchen zu unterrichten. Noch dazu hatte sie ihm vorgehalten, dass das Mädchen nur den Unterricht verweigere, weil sie das Gefühl hätte, ihre leibliche Mutter zu verraten. Dass die Kleine aber schon längst eine enge Bindung zu Celebrian aufgebaut hatte, hatte die verrückte alte Lehrerin glatt vergessen. Überhaupt hatte Elrond sie bloß zu sich nach Bruchtal geholt, um seine Frau ein wenig zu entlasten, da diese sich Eleniels Erziehung angenommen hatte. Selbst als Maracarwa eingetroffen war, hatte seine wunderschöne Frau noch oft dem Unterricht beigewohnt und Eleniel verbrachte ihre Freizeit oft im Salon ihrer Ziehmutter. Elrond konnte nicht leugnen, dass sich ihm der Magen umdrehte bei dem Gedanken daran, dass seine Tochter den langen gefährlichen Weg ins Waldlandreich auf sich nehmen könnte, um dort auf den einzigen Elben zu treffen, mit dem sich der sonst so beherrschte Elrond jemals wirklich gestritten hatte!
Und doch konnte er die Richtigkeit Maracarwas Beobachtung, Eleniels Konkurrenzgedanken betreffend, nicht verweigern oder abstreiten. Die kleine Elbin nahm jede Herausforderung an und hatte sich gegenüber seinen unerzogenen Söhnen schon oft behauptet. Wenn er genauer darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass Maracarwa womöglich Recht hatte und sie sich durch eine neue Umgebung zum ersten Mal wirklich wie eine Dame seines Hauses verhalten musste. Vielleicht wäre das Waldlandreich die perfekte Prüfung für ihre Fähigkeit, sich den unmöglichsten Situationen zu stellen und anzupassen. Es wäre die perfekte Möglichkeit, ihm und Maracarwa zu beweisen, dass sie bereits alles verinnerlicht hatte, was die alte Dame ständig versuchte ihr einzutrichtern.
Oh ja, ihm war sehr wohl aufgefallen, dass seine Tochter absichtlich so tat, als würde sie sich mit der Etikette einfach nicht abfinden können. Vor allem Celebrian gegenüber hatte sie sich schon oft genug als Dame bewiesen und auch auf den seltenen Festen die er gab, hatte sie sich wohlerzogen verhalten.
Mit einem neuen Entschluss machte Elrond sich demnach auf den Weg um alles Weitere mit seiner Frau zu besprechen und anschließend Vorkehrungen für Eleniels Abreise zu treffen. Er war sich sicher, dass seine Tochter diese Reise unbeschadet überstehen würde und konnte sich einer gewissen Schadenfreude nicht verwehren, als er an all die Scherereien dachte, die die so schelmisch aufgelegte Eleniel Thranduil machen würde. Er beschloss, einen seiner engsten Ratgeber mit ihr auf den Weg zu schicken, um über das Geschehen im Waldlandreich auf dem Laufenden gehalten zu werden. Vielleicht würde er sogar seinen beiden Ärgernissen von Söhnen erlauben, ihre Schwester zu begleiten und zusammen mit ihr das von Etikette beherrschte Waldlandreich aufzumischen. Ein breites Grinsen hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet, als er die Tür zum Salon seiner Frau öffnete.
Der Pfeil durchbohrte den Ork knapp über dem Herzen. Das Stroh das dabei von der angemalten Puppe hinabrieselte, bemerkte Eleniel gar nicht, da sie zu sehr damit beschäftigt war verärgert auf den Bogen in ihrer Hand zu starren. "Von einem bösen Blick auf den Bogen wirst du auch nicht besser schießen können", meinte Glorfindel lachend. Er war für ihr Training zuständig, dass Elrond ihr nach langer Diskussion erlaubt hatte. Und nach dem Lesen war das Kämpfen mit Strohpuppen oder Trainingspartnern ihre zweitliebste Beruhigungsmethode.
"Dieser blöde Bogen verändert aber immer wieder in der Sekunde des Abschusses den Winkel! Wenn ich jemals einem Ork gegenüber stehe wird mir ein Schuss knapp über dem Herzen auch nicht mehr helfen können!" "Vielleicht kannst du ihn ja dann zu Tode starren", ließ ihr blonder Lehrer hämisch verlauten. Oh ja, Glorfindel war einer der berühmtesten Krieger Bruchtals und der absolute Herzensbrecher, auch wenn Eleniel sich eingestehen musste, dass sie nie und nimmer verstehen konnte, was alle an ihm fanden. Klar, er war ein guter Lehrer und scheute sich nicht davor ihr auch mal ein blaues Auge zu verpassen, wenn sie beim Nahkampftraining abgelenkt war, aber er war auch arrogant und selbstverliebt und wusste nur zu gut, welche Wirkung er auf die meisten weiblichen Wesen in Bruchtal hatte. Von seinen Kommentaren angestachelt, legte sie einen neuen Pfeil auf die Sehne. Frustriert sah sie zu, wie er die Puppe um zehn Zentimeter verfehlte und in einen dahinterstehenden Baum einschlug. Kaum hatte die Pfeilspitze das Holz berührt, schnappte sie sich eines der Messer die sich in ihrem Gürtel befanden und warf es zielsicher hinterher und sah befriedigt, wie es den Pfeilschaft in der Mitte zerteilte und ebenfalls im Baum steckenblieb.
Als sie sich allerdings triumphierend ihrem überheblichen Lehrer zuwandte, erklärte dieser nur ruhig, "Du sollst Bogenschießen lernen. Dass du mit einem Messer jeden Ork in Wurfweite töten könntest ist mir schon bewusst. Du sollst allerdings lernen, alle Waffen beherrschen zu können. Immerhin weißt du nie, was dir bei einem Kampf auf Leben und Tod zur Verfügung steht". Schnaubend wandte sie sich wieder ab und versuchte es erneut mit dem Bogen. Das Ergebnis war, wenn überhaupt möglich, noch katastrophaler als zuvor. Der Pfeil flog nicht einmal mehr in Reichweite der Strohpuppe, sondern landete mit einem Platschen im Fluss, der einige Meter hinter dem Übungsplatz träge dahin floss.
"Ich denke nicht, dass das heute noch was wird", äußerte sie verdrossen. Glorfindel nickte nur zustimmend und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Gemeinsam machten sie sich zurück auf den Weg zum Herrenhaus, wo bestimmt bereits das Abendessen und ein hoffentlich beruhigter Elrond auf sie wartete. Auf dem Weg zum Speisesaal machte sie kurz in der Waffenkammer und in ihrem Zimmer halt, um sich etwas frisch zu machen und den Bogen loszuwerden. Immerhin wollte sie nicht verschwitzt und mit einer Waffe in der Hand beim Abendessen aufkreuzen. Spätestens beim Anblick ihres verwilderten Äußeren hätte ihr Vater zu drastischeren Maßnahmen gegriffen und sie in ihr Zimmer gesperrt, bis sie als vollkommene Lady wieder herauskommen würde.
Die Tür zum Speisesaal war angelehnt und von drinnen drang Gelächter und leise Stimmen an ihre empfindlichen Ohren. Also gut, dachte sie sich, wird schon schief gehen. Vorsichtig stieß sie die Tür ein wenig weiter auf und schlüpfte behutsam hinein. Gerade als sie sich auf den Platz neben ihrer Mutter gleiten ließ, richtete sich der Blick ihres Vaters auf sie.
"Ah, wie ich sehe, beehrst du uns auch mit deiner Anwesenheit. Ich war schon in Sorge, das gemeinsame Abendessen mit deiner Familie wäre dir auch mit zu viel Etikette belastet." Das Funkeln in seinen Augen enttarnte seinen vorwurfsvollen Ton als Lüge und mit einem Grinsen antwortete Eleniel sanft, "Solange niemand der Meinung ist, mich zu verbessern wenn ich die falsche Gabel benutze, wird es auch keine Toten geben. Die Schilderung eines solchen Vorfalls könnte allerdings ziemlich interessant werden: 'Er starb durch eine Gabel', meint ihr nicht auch Vater?" Bei diesen Worten hatte sie vor allem ihre Brüder angesehen und das allgemeine Gelächter am Tisch ließ vermuten, dass alle Anwesenden genau wussten, wer auf die Idee kommen könnte die reizbare Elbin zu provozieren. Zum Erstaunen aller verlief das Abendessen jedoch recht friedlich, ab und zu nur unterbrochen vom geschwisterlichen Geplänkel.
Erst als sich der Abend dem Ende zuneigte, erhob Elrond sich und alle Gespräche verstummten. Mit feierlicher Stimme erklärte er, "Celebrian und ich haben nach langem Überlegen beschlossen, dass es das Beste wäre, wenn Eleniel demnächst eines der anderen Elbenreiche besuchen würde, um sie in die Gesellschaft der Elben einzuführen. Nach Beratung mit ihrer Lehrerin Maracarwa haben wir uns für das Waldlandreich entschlossen, da sie dort am Besten lernen wird, sich mit der Etikette des Hofes zurecht zu finden." Nachdem er diesen Beschluss geäußert hatte, herrschte absolute Stille im Raum. Man hätte eine Stecknadel fallen lassen können, und selbst ein Mensch hätte es wahr genommen. Die Stille wurde immer erdrückender und als sie es schließlich nicht mehr aushielt, stand Eleniel auf und verließ den Saal, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
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Not All Those Who Wander Are Lost
FanfictionDas Leben als Elbin kann manchmal ganz schön zum Kotzen sein! Das denkt vor allem Eleniel wenn sie sich durch die sitenlange Etikette quält, mit der sie es tagtäglich zu tun bekommt. Das ihr das alles aber eines Tages nützlich sein kann, wird ihr er...