1 - Zuhause in Atlantis

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Ein einziger Gedanke, ein einziger Schritt, kann das komplette Leben verändern. Aber was ist, wenn keiner einen Denken lässt, oder sich bewegen? Ich rutschte unruhig auf meiner Schulbank hin und her, meine golden schimmernde Flosse schwang ungeduldig auf und ab. Ich musste hier raus. So schön Atlantis auch war, ich wollte den Ozean erforschen. Vielleicht sogar mal soweit hinauftauchen, dass ich die magischen Sonnenstrahlen berühren könnte. Grandma meinte einst, dass es nichts schöneres auf der Welt für sie gab, als die warmen Strahlen der Sonne zu spüren. Doch nur noch die Ältesten von Atlantis, kannten sämtliche Orte jenseits der Wasseroberfläche. Heimlich erzählten sie uns Geschichten einer längst vergessenen Welt. Eine Welt die seit hunderten Jahren kein Meermensch mehr gesehen hatte.
Gelangweilt blickte ich aus dem Fenster, während unsere Lehrerin irgendwas faselte. Würde ich über Atlantis herrschen, was eines Tages auch der Fall sein wird, würde ich die Tore für alle öffnen und den Weg zur jenseitigen Welt bereitmachen. Jetzt stand ich allerdings noch unter der Fuchtel meiner Eltern. Celestia, die Königin der Ozeane und Poseidon, der Meeresgott. Ein langweiliges Elternpaar, dass mich lieber mein ganzes Leben lang in Atlantis festhielt, als mir zu sagen, welches Problem die Meermenschen mit den Landmenschen hatten.
"Mariella Atlanta!", schreckte die Lehrerin mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte hoch und starrte sie beinahe feindselig an. Der Rest der Stunde verging schnarchend langsam. Ein Blick ruhte auf mir. "Warum grinst du mich so an Lucy?", fragte ich sie. "Weil du mal wieder guckst, als würdest du dich innerlich über deine Eltern aufregen", antwortete sie und fuhr kichernd fort: "Und offengestanden, siehst du dabei echt lustig aus!". Ich seufzte theatralisch. "Man meint, mit sechzehn Jahren hätte man reifere Freunde..." Sie kicherte. "Ach Marylein, du glaubst auch alles, was man dir erzählt" Augenverdrehend blickte ich auf die Uhr. Ich beobachtete den Sekundenzeiger und ließ mich allmählich wieder von meinen Gedanken tragen. Ein Leben hier in Atlantis war wundervoll. Es war eine tragisch schöne Stadt im tiefen, sicheren Ozean. Das Wasser war dunkelblau und düster, erleuchtet von tausenden Lämpchen. Das Licht reichte, um sich im gesamten Atlantis zurecht zufinden. Doch nicht, um zu sehen was außerhalb lag. Und immer wieder schwamm ich zum äußersten Rand und versuchte hinauszuschauen. Vielleicht würde ich eines Tages dort hinaus schwimmen. Was war jenseits der Grenze und würde ich sie je überqueren? "MRS ATLANTA?!", wurde ich erneut von der Lehrerin geweckt. Genervt starrte ich sie an. So giftig wie nur irgendwie möglich, beantwortete ich jene von ihr gestellte Frage völlig richtig und zeigte ihr anschließend den Mittelfinger. Dass sie mich dafür rauswarf, wunderte mich nicht sonderlich. Ich konnte dieses Fach nicht ausstehen. Und ja ich war selbst oft unausstehlich. Schon klar. Aber nach 16 Jahren in dieser Stadt hatte ich langsam unbändige Wut aufgestaut. Ich musste hier raus! Ich musste einfach, um Oma zu zitieren, an die frische Luft. Oma... plötzlich viel mir siedend heiss ein, dass bald ihr fünfhundertster Geburtstag bevorstand. Und ich beschwerte mich über meine 16 Lebensjahre... was sollte sie denn sagen... Bis zum 18. Lebensjahr alterten wir normal, danach allerdings starben wir zum verrecken nicht weg. Hehe... Egal. Auf jeden Fall lebten wir zirka ewig und drei Tage, deshalb wurden auch so selten neue Meermenschen geboren. Und wenn doch, musste ein anderer ermordet werden. So waren die Ozeanregeln. Kopf ab oder kein neuer. Mir grauste allein der Gedanke. Meistens wurden dann Sirenen ermordet. Sirenen wurden von den restlichen Meermenschen regelrecht verabscheut. Sie machten immerzu Jagd auf die Landmenschen und waren somit eine Bedrohung für das Geheimnis unserer Existenz. Man hatte mir erklärt, dass eine Sirene dadurch entstand, dass sie dem Verlangen nach Bösem in sich nachgegeben haben und sich dann immer ihre Haare und Schuppen farblich ihrer schwarzen Seelen anpassten. Ich erschauderte bei der Vorstellung, wie ein ahnungsloses Schiff voller Landmenschen mehrere Kilometer über mir entlangtrieb und plötzlich ein seltsamer Gesang ihnen den Verstand raubt. Düstere Einsamkeit unterbrochen von ihrem Todeslied. Das letzte was sie hören, sind Stimmen aus den unergründlichen Tiefen unter ihnen, welche den Menschen an der primitivsten Stelle seiner Psyche packen und dort seinen Verstand vergiften, bis er den Tod wie ein kompletter Taugenichts einfach annimmt. Und das letzte was sie spüren sind scharfe, spitze Zähne, welche ihnen bei lebendigem Leibe das Fleisch von den Knochen reißen, ehe sie erahnen können, welchem Schicksal sie sich bereits freiwillig ausgeliefert haben. Schwachköpfe sind diese Landmenschen. Die kann jeder um den kleinen Finger wickeln.
Ich schnaupte verächtlich. Kein Wunder, dass keiner meiner Sorte etwas mit denen zu tun haben wollte. Stattdessen gingen hier wie da alle ihrem Tagwerk nach. Jeder Mensch bekam in seinem Leben irgendeine Aufgabe und erfüllte sogenannte Pflichten um "etwas wert" zu sein. Ich aber wollte mehr sein. Mehr schaffen. Ich wollte die Welt verändern und mein Leben einfach leben. Glücklich sein. Stattdessen hörte ich tagtäglich irgendwelche ach so wissenswerte Sachen, die meine Zeit verschwendeten und nie mehr wieder von Nutzem sein würden.
Plötzlich sprang die Klassenzimmertür auf und meine Lehrerin kam auf mich zugeschwommen. Gab es einen Weg, theatralischer zu seufzen, als es mir gerade mal möglich war?
"Mariella, was ist eigentlich los mit Ihnen?". Augenverdrehend stand ich auf. "Wir sind alle nichts weiter als Rädchen einer Maschine. Zu irgendwas nutze aber auch austauschbar. Dieses Leben ist absurd". Mit diesen Worten machte ich auf Absatz kehrt und schwamm so schnell es ging, aus diesem Gebäude.
Ich wollte einfach nur weg, doch Atlantis zu verlassen würde mir auch diesmal nicht gelingen. Sobald ich auch nur einen Zentimeter über die Grenze glitt, preschten sofort sämtliche von Daddys beorderten Soldaten auf mich zu und rissen mich zurück. Permanent wurde ich beobachtet von denen. Aber zumindest konnte ich die Aussicht genießen.

Allmählich glitt ich durch jene riesige Stadt, welche dämmrig erleuchtet war und wunderschön funkelte. Doch meine Augen glitten nach oben. Die Wasseroberfläche war soweit entfernt, dass man sie gar nicht sehen konnte. Kein einziger Sonnenstrahl schaffte es je bis nach hier unten. Wie lange schon, blickte ich Tag für Tag hinauf und hoffte, eines Tages die Sonne zu erblicken. Wenigstens einen einzigen leichten Sonnenstrahl. Seufzend gab ich es auf. Ich spürte deutlich in mir, dass ich allmählich wahnsinnig hier unten wurde. Es passierte ganz eindeutig. Ich verlor den Verstand. Gequält lächelte ich. Irgendwie würde ich hier schon herauskommen. Und dann würde ich beweisen, wie gefährlich diese Welt wirklich ist. Und wenn ich auch dabei draufgehe!

Mariella und das Herz des Ozeans Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt