Ein neuer Tag

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Als ich wieder zu Bewusstsein kam lag ich noch immer auf dem Boden, noch immer schmerzte mein gesamter Körper und noch immer war die Gestalt über mich gebeugt. Nur, dass diese mir nun alle paar Sekunden rechts und links einen Klaps auf die Wange gab und mit lauter Stimme mit mir sprach. Ich versuchte mich aufzurichten und etwas zu sagen, doch ein schmerzvoller Stich durchfuhr meinen Rücken, sodass ich nur keuchen konnte. "Hey, hey....ruhig. Versuch jetzt nicht dich zu bewegen." Der Fremde musterte mich mit durchdringenden Blicken. Noch immer war es dunkel und das Gesicht des Mannes war kaum zu erkennen. Also richtete ich meinen Blick in den Himmel, den ich zwischen den Bäumen erkennen konnte. Er schien so unendlich groß, so endlos und weit. Ein weiterer Klaps riss mich aus meinen Gedanken. Nochmal versuchte ich mich aufzurichten und dieses Mal gelang es mir. Nun konnte ich auch meinen Retter ein wenig besser begutachten. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig. Er hatte markante Gesichtszüge und aus einem seiner Ohren baumelte ein Handykopfhörer. "Geht's?" Ich antwortete nicht sofort, konnte dann aber doch ein "Ja, alles okay." zwischen den Zähnen hervorpressen. Er nickte nur, schien aber nicht überzeugt zu sein. "Soll ich einen Krankenwagen rufen?" Diese Frage kam reichlich spät, dafür, dass ich bereits ohnmächtig gewesen war. Trotzdem schüttelte ich den Kopf. Was hätte ich sagen sollen, wenn die im Krankenhaus nach meiner Sozialversicherung oder meinem Namen gefragt hätten? "Kann dich jemand abholen?" Wieder schüttelte ich den Kopf. Der Fremde seufzte und richtete sich auf und blickte auf seine Uhr. "Es ist fast halb drei Uhr morgens und ich kann dich hier nicht einfach so sitzen lassen. Ich wohn hier gleich in der Nähe. Soll ich dich mitnehmen?" Anstatt auf eine Antwort zu warten, half er mir vorsichtig auf und legte meinen Arm um seine Schulter. Ich stöhnte auf, war aber doch froh nicht mehr auf dem Boden liegen zu müssen.

Der Weg zu seiner Wohnung war hart, aber wenigstens kurz. Immer wieder versetzte mir mein Körper einen schmerzlichen Stich und wir mussten mehrer Pausen einlegen. Bei seiner Wohnung angekommen, hievte er mich die Treppe hinauf und legte mich unsanft aufs Sofa. Ich biss mir fest auf die Unterlippe, um keinen Schrei auszustoßen. Mein Retter stieg über den Couchtisch, schaltete das Licht ein und verschwand durch eine Tür, die in die Küche zu führen schien. Besonders hell war es nicht, doch nun konnte ich mich erstmals ein wenig umsehen. Die Wohnung war schäbig und sehr unordentlich. Überall lagen Bücher und in einem der Regale befand sich ein Radio, welches bestimmt schon über dreißig Jahre alt war. An den Wänden hingen Notizen, die achtlos mit Nägeln hinein geschlagen worden waren und neben dem altmodischen Kleiderständer lag ein Hut am Boden. "Und du bist sicher, dass du keinen Arzt brauchst?" fragte mein Retter, als er mit vollbepackten Armen zurück ins Zimmer kam, wobei er geschickt dem Zeug am Boden auswich. Sicher war ich mir nicht, doch ich nickte nur bestätigend. "Trotzdem sollten wir dich verarzten." sagte er und ließ Verbandsmaterialien, Schere, Kühlbeutel und jede Menge anderes Zeug auf den Couchtisch fallen. Während er meine Wunde am Hinterkopf mit einer übel riechenden Flüssigkeit abtupfte, musterte er mich. "Also, erzähl! Wer bist du und warum treibst du dich mitten in Nacht im Park herum? Bist du ein Ausreißer?" Sein Blick war durchbohrend. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen? "Ich...ich weiß es nicht." Er zog die Brauen zusammen und runzelte die Stirn. "Was weißt du nicht?" Würde er mir überhaupt glauben? "Ich kann mich an nichts mehr erinnern." Der Mann stand auf. "Du musst dir den Kopf verletzt haben, als du gefallen bist. Ich bring dich ins Krankenhaus." "Nein!" In meiner Verzweiflung hatte ich mich ruckartig aufgesetzt und bereute es schon jetzt. "Das war schon vorher so. Ich weiß nur noch, dass ich am Abend in der U-Bahn erwacht bin. An das was davor war, kann ich mich nicht erinnern." Er ließ sich in einen der Ohrensessel fallen, die rechts und links des Couchtisches standen, reichte mir einen Kühlbeutel, den ich mir sogleich gegen meinen Kopf hielt und atmete tief aus. Skepsis lag in seinem Gesichtsausdruck. "Du weißt also gar nichts mehr?" Ich nickte stumm. "Nicht mal deinen Namen?" Auf seiner Stirn waren tiefe Falten zu erkennen. "Was willst du jetzt machen? Ich meine du hast nichts. Willst du deine Eltern zu suchen, oder was? Vielleicht kann ich dir dabei helfen." Nun sah ich ihm direkt in die Augen. Er war offenbar wirklich gewillt mir zu helfen, herauszufinden wer ich war, doch irgendetwas sagte mir, dass ich es selbst nicht wissen wollte. "Nein, ich denke nicht, dass mich jemand vermisst." Der Mann zuckte mit den Schultern. "Wie du willst, ist deine Entscheidung. Mich geht es ja nichts an. Trotzdem solltest du dir überlegen, wie du weitermachst. Schließlich liegst du in meiner Wohnung auf meiner Couch und ich weiß nicht mal, wie ich dich nennen soll. Wer bist du überhaupt, wenn du keinen Namen hast? Ich bin übrigens John. Also wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich nun zu Bett." Mit diesen Worten verabschiedete er sich durch eine Tür, die, wie ich annahm, zu seinem Schlafzimmer führte und schaltete beim Hinausgehen das Licht aus.

Es war totenstill im Haus. Nur meinen eigenen Atem und das leise ticken einer Uhr konnte ich noch hören, doch schlafen konnte ich nicht. Zu viel war in den letzten Stunden passiert, was mir rastlos im Kopf herumging und auch mein Körper schmerzte viel zu viel, als dass ich hätte einschlafen können. Mit einer Sache hatte mein fremder Retter recht. Wer war ich überhaupt, wo ich doch nicht mal einen Namen hatte. Ein Niemand. Als der erste Sonnenstrahl durch die dicken Vorhänge fiel, begriff ich, das war meine Gelegenheit, mir ein eigenes Leben zu erschaffen. Ich konnte mir meine eigene Identität aufbauen. Diese Chance bekommt man nur einmal. Ich musste sie einfach nutzen. 

Amnesie [seltene Updates] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt