Namenlos

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Irgendwann in den frühen Morgenstunden war ich dann doch eingeschlafen. Ich hatte das Gefühl, gerade erst weggedriftet zu sein, als mich gegen Mittag das Geräusch eines Schlüssels im Türschloss weckte. John, der Tüten und Taschen jeglicher Art auf seinen Armen balancierte, öffnete die Tür. Mit dem linken Fuß schloss er sie hinter sich, während ihm zwei der Tüten aus den Händen glitten, zu Boden fielen und ihren Inhalt, bestehend aus schwarzen Socken und einer dunklen Hose dort verteilten. "Ich habe deine Größe einfach mal geschätzt." rief er mir aus der Küche zu, wo er die restlichen Tüten auf der Arbeitsfläche abstellte und damit begann die Lebensmittel zu verräumen. Mit schmerzverzerrten Gesicht richtete ich mich vorsichtig auf. Perplex starrte ich auf das Zeug am Boden. "Das ist für mich?", fragte ich. "Ja" antwortete John ohne sich umzudrehen. "Aber warum?" Nachdem er gefühlte fünfzig Jughurtbecher in den Kühlschrank gestellt hatte, wandte er sich zu mir um. Er holte Luft öffnete den Mund, um etwas zu sagen, hielt dann aber inne und schloss ihn wieder. "Hast du dir schon einen Namen überlegt?" Der abrupte Wechsel des Gesprächsthemas irritierte mich. "N...Nein, aber wa.." "Hank? Jack? Oder doch lieber sowas wie.... Harrison?" Ich zuckte mit den Schultern. Woher sollte ich auch wissen, welche Name zu mir passte? "Na in..." Er blickte auf seine Uhr. "...in eineinhalb Stunden solltest du es wissen." "Weshalb?" Die Verwirrung war mir ins Gesicht geschrieben. John schien es zu bemerken und er machte ein paar Schritte in meine Richtung. Mitleidig blickte er mich an und senkte seine Stimme. "Ich habe einen alten Freund von mir angerufen. Er ist Arzt." Ich wollte schon protestieren, doch er machte eine Geste, die alles nichtig machte, was ich hätte sagen können. "Du bist verletzt. Ich biete dir einen Platz in meiner Wohnung an, aber nur, wenn du dich untersuchen lässt. Du kannst dieses Angebot annehmen oder nicht. Es ist deine Entscheidung!" 

Fertig umgezogen saß ich auf dem schäbigen Sofa und beobachtete die feinen Staubkörner, die im Licht des Sonnenstrahles tanzten, der durch einen Spalt in den Vorhängen fiel. In den Tüten waren neben den Socken und der Hose auch noch ein Polohemd und ein Pullover gewesen, welche ich jetzt trug. John war in seinem Zimmer verschwunden, wo hin und wieder das Knarren der Dielen zu hören war, wenn er im Raum auf und ab ging. Einmal läutete es an der Tür, doch John kam nicht, um zu sehen, wer es war. Also machte auch ich mir nicht die Mühe, abgesehen davon, dass ich nicht die Kraft dazu gehabt hätte. Um kurz vor halb zwei trat John ins Wohnzimmer und sah mich an. Ich nickte ihm zu. "Gut, ich habe ein Taxi gerufen", sagte er, schritt auf mich zu und half mir aufzustehen. Ich wollte mich bedanken, doch ich brachte kein Wort heraus. Alles drehte sich. Die Treppe war steiler als in meiner Erinnerung und ich war froh, als ich mich auf der Rückbank des Taxis niederlassen konnte. 

John räusperte sich und ich schreckte hoch. "Wir sind fast da.", murmelte er. Er beugte sich nach vor, bezahlte den Taxifahrer und sagte ihm, er solle uns hier um drei Uhr abholen. Dann stieg er aus, öffnete auf meiner Seite die Autotür und hievte mich aus dem Taxi. Der Stadtteil Londons, in dem wir uns nun befanden, war heruntergekommen. Während John geradewegs auf eine Tür zuging, deren roter Lack abblätterte, sah ich mich in der Straße um. Die Fassaden der Häuser bröckelten an einigen Stellen, die Farben der Türen waren matt und verblichen und einige der Fenster waren zerbrochen und andere waren so schmutzig, dass man nur schwer hindurchsehen konnte. Ein Schild an der Tür eines kleinen Buchladens verkündete "GESCHLOSSEN". Die Bücher im Schaufenster waren wild durcheinander geworfen und lagen aufgeklappt und mit umgeknickten Seiten herum. Gedichtsbände von Edgar Allan Poe und William Blake lagen neben Romanen von Charles Dickens, Oscar Wilde und Dostojewski. Die feine Staubschicht, welche die Bücher überzog, ließ das Schaufenster wie eine schlafende Winterlandschaft aussehen. Mir kam eines der Gedichte von William Blake in den Sinn. "Tiger, Tiger Flammenpracht in der Wälder dunkler Nacht..." Woher kannte ich dieses Gedicht? Bevor ich länger darüber nachdenken konnte, rief John, ich solle kommen. Er hatte die Tür geöffnet, doch als ich mich nicht bewegte, kam er auf mich zu. "Hast du dir einen überlegt?", zischte er mir ins Ohr und legte meinen Arm über seine Schulter, damit er mich stützen konnte. "Was?", fragte ich. "Einen Namen! Irgendeinen. Ist doch egal welchen!" Er machte ein paar Schritte und ich spürte wie sich mein Magen vor Schmerzen zusammenkrampfte. "William!", keuchte ich. Es war der einzige Name, der mir im Moment einfiel. John schien für einen Augenblick zu erstarren, doch er nickte nur, atmete tief ein und machte sich daran, mich die vier Stufen hinauf zur roten Tür zu schieben, welche nun offen stand. 


Amnesie [seltene Updates] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt