Kapitel 2

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Nach einem gescheiterten Versuch ihre Augen zu öffnen, setzte sich Jessica auf und rieb sich eben genannte. Nachdem sich ihre Augen an das Sonnenlicht gewohnt hatten, brauchte sie einen kurzen Augenblick, um zu realisieren, wo sie sich befand und wie sie dort hingekommen war. Als es begann ihr zu dämmern, stellte sie fest, dass bei dem Gedanken an die vergangene Nacht alle Erinnerungen verschleiert und surreal wirkten, so als sei alles nur ein komischer Traum gewesen. Doch das konnte kein Traum gewesen sein, wie sollte sie denn ansonsten an diesen Ort gekommen sein. Von Neugierde geplagt, beschloss sie das Tageslicht zu ihrem Vorteil zu nutzen, um diesen Patz genauer zu erkunden. Womit sie anfangen wollte, war ihr voll und ganz bewusst. Sie stand auf und blickte, ähnlich wie letzte Nacht, über die Baumkronen. Dabei rückte die Sonne in ihr Blickfeld, welche lediglich vor wenige Minuten am Horizont erschienen war. Eine leichte Brise strich durch ihr schulterlanges, braunes Haar, entfernte dadurch ein Blatt, welches sich in diese verirrt haben musste, als Jessi auf dem Boden gelegen hatte. Etliche Bäume bedeckten den Wald, sie alle geschmückt mit bunten Blättern, welche von der aufgehenden Sonne besonders in Szene gesetzt wurden. Es war schier unmöglich, dass sich bei diesem wunderschönen Anblick am Morgen, kein Lächeln auf ihre schmalen Lippen schlich. Die Müdigkeit, welche längst vergessen schien, wurde erkennbar von dem vertrauten Gefühl dominiert, welches sich mit einem sanften Kribbeln im Bauch angekündigt hatte.
Dieser Ort hatte zweifellos etwas Magisches.

Ihr Lächeln wich, identisch zur intensiven Ruhe, welche in ihr herrschte, nicht von Jessicas Seite. Selbst als der magische Ort, welchem Jessi den Namen "Silberne Baumkronen" verliehen hatte, weit hinter ihr lag, wollte ihr glücklicher Gesichtsausdruck einfach nicht von ihrem Gesicht weichen, obwohl sie es anfangs kaum übers Herz gebracht hatte zu gehen. Durch diese überwältigenden Glücksgefühle, welche durch ihren gesamten Körper strömten, blendete sie allerdings die stetigen Geräusche hinter ihr aus. Lediglich eine halbe Stunde später, nahm sie das Knirschen hinter ihr wahr. Allerdings realisierte Jessica relativ schnell, dass das Tier Pfoten besaß, da sie heraushören konnte, wie es diese immer wieder vorsichtig auf dem blätterüberdeckten Waldboden absetzte. Unmittelbar verlangsamten sich Jessis Schritte und sie kam schlussendlich zum Stehen, um vorerst einen neugierigen Blick über ihre Schulter zu werfen. Behutsam und darauf bedacht, das Tier nicht zu bedrohen, drehte sie sich um und war sprachlos von der einzigartigen Fellfärbung des Wolfs. Sie wusste, dass sie nun schnell handeln musste, um den Wolf davon abzuhalten, davon zu laufen oder aus Angst anzugreifen.

Sie ging in die Hocke, versuchte so dem Wolf zu signalisieren, dass sie keine Bedrohung für ihn darstellte. Der Wolf legte jedoch seine schwarzen Ohren an und begann zu knurren. Jessica wusste nicht was sie tun sollte, solch eine Gelegenheit bekommt man nicht ein zweites Mal im Leben und sie wollte auf gar keinen Fall versagen. Bedrückt ließ sie den Kopf hängen, schaute auf ihre dreckigen Turnschuhe und überlegte, was sie nun tun sollte. Sie seufzte, ihre Verzweiflung nahm mit der Anspannung im Schlepptau zu und sie spielte mit dem Gedanken, einfach aufzugeben. Wölfe waren faszinierende Wesen in Jessis Augen, doch es stellte sich heraus, dass auch sie nicht mehr über sie wusste als andere, dabei war dies das einzige Thema gewesen, über welches sie selbstsicher sprechen konnte. "Hör zu", Jessica hob ihren Kopf und schaute den Wolf an, "du hast gar keine Ahnung, wieviel mir diese Begegnung wirklich bedeutet. Ich liebe Wölfe und ich würde am liebsten alles über euch erfahren, ich dachte sogar dass ich schon so vieles über euch weiß. Doch wie man jetzt sieht, ist es eben nicht so. Ich weiß nicht einmal, wie ich dich dazu bringen kann, mich nicht als Bedrohung anzusehen.", sie unterbrach sich selbst mit einem Seufzen. Während sie ihren Frust in Worte gefasst hatte, hatte ihr Gegenüber sie mit schiefgelegtem Kopf durch dunkelbraune Augen angestarrt.

Jessi begann zu grinsen und musterte den nun weniger beängstigten Wolf. Sein Fell trug einen hellen Grauton, begleitet mit der Illusion im Licht silber zu glänzen, während seine Ohren sich mit dieser dunklen Farbe schwer in den Vordergrund rückten, genauso wie seine rechte vordere Pfote, welche ebenso mit schwarz überzogen war. "Du bist schon ziemlich niedlich und dein Fell ist auch so besonders gefärbt.", schwärmte sie mit Begeisterung, den Frust und die Angst, dass der Wolf davonlaufen könnte, lange vergessen. Als ihre ausgeprägte Begeisterung langsam begann abzuklingen, warf sie dem Tier einen verwunderten Blick zu. Ihre Verwunderung wuchs mit jeder Sekunde, in der sie ihren Blick über die Umgebung gleiten ließ. "Warum bist du überhaupt alleine? Solltest du nicht mit einem Rudel unterwegs sein?", ihrer Stimme war leichte Sorge zu entnehmen. Als würde er darauf reagieren, was Jessica eben von sich gegeben hatte, beschloss der Wolf, dass der Boden interessanter zu Bestaunen war, als sie.

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