Kapitel 1

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Ein kleines Mädchen beobachtete begeistert die außergewöhnlichen Fische, welche in dem See schwammen, welchen die Familie des Mädchens, an diesem warmen Sommertag, besucht hatten. Sie war fasziniert von den verschiedensten Farben und beugte sich unbedacht vor, um einen besseren Blick auf sie werfen zu können. Doch ihre Unachtsamkeit sollte schnell bestraft werden, in dem sie das Gleichgewicht verlor. Schon war das Mädchen im Wasser und strampelte panisch mit Armen und Beinen, viel zu jung um sich selbst retten zu können. Sie wollte schreien, jedoch sank sie in rasender Geschwindigkeit, welche ihrem Herzschlag glich, Richtung Grund. Es fühlte sich an, als seien an ihren Beinen Gewichte befestigt worden und obwohl es so ein warmer Tag war, verspürte sie nur die Eiseskälte des Wassers, welches langsam und schmerzhaft den Weg in ihre Lungen fand. Angsterfüllt schaute sie sich um, denn sie wollte zumindest noch einmal einen dieser wunderschönen Fische sehen. "Nur noch einmal, nur ein letztes Mal.", war der einzige Gedanke, welcher in ihrem Kopf umher schwirte- Nein. Dieser Gedanke war alles, woran sie glaubte. Verzweifelt zitternd klammerte sie sich an dem funken Hoffnung fest, alles würde gut werden, wenn sie nur noch einen dieser Fische sehen würde. Vollkommener Dunkelheit und Verzweiflung ausgesetzt, versuchte sie vergeblich gegen den Schmerz anzukämpfen. Ihre Versuche waren hoffnungslos, denn sie spürte, wie die Dunkelheit sie quälend langsam verschlang. Stück für Stück.

Schweißgebadet fuhr Jessica in ihrem Bett hoch und schnappte, mit weit aufgerissenen Augen, nach Luft. „Ganz ruhig Jessi, es war nur wieder ein dummer Alptraum. Reiß dich zusammen!", wies sie sich selbst an. Sie war das doch schon lange gewohnt, warum wollte ihr Herz denn bloß nicht zu rasen aufhören? Sie hob ihre linke Hand und schaute sich das Ruckelfest einen kurzen Moment an, bevor sie ihre Hand seufzend sinken ließ.
Diese Alpträume mussten sie ständig plagen und natürlich war immer nur ein gewisser Tag von Bedeutung: Dieser lang vergangene Sommertag am See. Jedes noch so kleinste Detail hatte sich mittlerweile in ihr Gedächtnis gebrannt, war sie doch so unfassbar jung gewesen. Wie sollte sie auch die Möglichkeit bekommen Vergessen zu können, wenn ihre Vergangenheit nur darauf wartete, sie wieder und wieder einzuholen und schlaflose Nächte mit sich zu bringen. Die 16 Jährige lief einen endlosen Marathon mit ihrem jüngeren Ich, bei welchem die Vergangenheit mit ungerechten Karten spielte. Sie hatte sich zwar schon lange damit abgefunden, diesen Tag kontinuierlich von Neuem durchleben zu müssen, allerdings würde sie nie aufhören, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, aus welchem Grund ihr Unterbewusstsein es nicht für notwendig befand die Träume wahrheitsgemäß zu beenden.

Jessica begann sofort ihre unorganisierte Ader zu verfluchen, als sie einen Blick auf ihre Kleidung warf: „Warum zur Hölle muss ich immer in meinen Klamotten einschlafen?!" Allerdings verschwendete sie keinen Gedanken daran sich umzuziehen, stattdessen ließ sie sich einfach zurück ins Bett fallen, nur um sich eine gefühlte Ewigkeit darin hin und her zu wälzen. Frustriert knurrend, vergrub sie den Kopf in ihrem Kissen, bevor sie sich zum Aufstehen zwang und sich über die Uhrzeit informierte. Sofort legte sie ihre von Reue getränkten Augen mit einem sehnsüchtigen Schnaufen auf das Bett, aus welchem sie lediglich vor wenigen Sekunden aufgestanden war. Es war 2:42 Uhr. „Mein Leben will mich doch verarschen.", dachte sie und schwor sich in einem murrenden Selbstgespräch, dass jede auch nur annähernd nervige Kleinigkeit reichen würde, um sie dazu zu bringen, ihr komplettes Zimmer auseinander zu nehmen.
Sie schaute aus dem Fenster mit dem Versuch ihre Wut zu zügeln, was sich als gute Idee herausstellte, denn alleine den Vollmond zu erblicken, genügte um Jessica weitgehend zu beruhigen. Lange Zeit stand sie am Fenster, einfach um den Sternenhimmel über ihr hinüberziehen zu sehen, denn alles daran war einfach beruhigend. Ein unerwartetes Aufblitzen erweckte ihr Interesse. "Hat der Mond gerade ernsthaft silber geblitzt?", fragte sich die Brünette und begann an ihrem Verstand zu zweifeln. Die Fragen multiplizierten sich rasend schnell in ihrem Kopf, wessen beinahe sofortiges Resultat war, dass sie, wie so oft, in ihren Gedanken versank.
Jessi fühlte sich verrückt bei dem Eigengeständnis, dass dieses kurze Aufblitzen, ein vertrautes Gefühl durch den gesamten Körper gejagt und sie damit vollkommen überrumpelt hatte. Obwohl dieses absolut zweifellos ein Produkt ihrer Vorstellungskraft mit starkem Einfluss des Schlafmangels gewesen sein konnte, vermisste sie dieses Gefühl ab dem exakten Zeitpunkt, an dem es verschwand.

Nachdem sie es geschafft hatte sich aus ihrer Gedankenparalyse zu befreien, stieg sie mit federleichten Schritten die Treppe hinunter, stehts darauf bedacht ihre Eltern keines Falls aufzuwecken. An der Haustür angekommen, streifte sich Jessica schnell ihre geliebte Lederjacke über, von welcher man sie nicht einmal im wärmsten Sommer trennen konnte, und schlüpfte in ein Paar mitgenommener Turnschuhe, bevor sie das Haus verließ. Erst nachdem Jessi noch einmal überprüft hatte, dass sich ihr Schlüssel zu 100% in ihrer Jackentasche befand, schloss sie leise die Haustür hinter sich und begab sich Richtung Wald. Angst davor, nachts alleine im Wald herumzuirren, hatte sie schon lange nicht mehr, denn irgendwann wird alles zur Gewohnheit. Auch in den dunkelsten Nächten in unbekannten Wäldern herumzulaufen.

Jessica spazierte, angetrieben von ihrer Neugierde, in den Wald hinein, welcher magisch in das heute viel heller erscheinende Mondlicht getaucht war. Als sie an einem erhöhten Platz ankam, welcher ihr einen guten Blick über die Baumkronen des Walds ermöglichte, hielt sie die Luft an. Wow entfloh ihren Lippen, völlig berauscht von dieser malerischen Aussicht. Dieses vertraute Gefühl, welches sie vorhin schon aus der Bahn geworfen hatte, breitete sich in ihrem Bauch aus. Langsam, vollkommen von den überflutenden Glücksgefühlen benebelt, ließ sie sich im Schneidersitz auf dem Waldboden nieder. Sie stützte ihren Kopf auf ihrer Hand ab und beobachtete wie ein Windhauch über den Wald fegte, die Baumkronen zum tanzen brachte und vereinzelte Blätter ruhig in der Luft umher fliegen ließ, bis diese sich schließlich den anderen bunten Blättern, welche bereits vielfach den Waldbogen schmückten, anschlossen. Diese Nacht strahlte eine surreale Ruhe und Zufriedenheit aus, welche so intensiv auf Jessica wirkte, dass sie unbewusst zu Summen anfing. Sie fragte sich für einen kurzen Augenblick wie sie diesen Ort bisher bloß noch nicht entdeckt haben konnte, doch schüttelte diesen Gedanken sofort wieder ab als sie aus der Ferne Wolfsgesang wahrnahm. Jessi begann ihre eigene Wahrnehmung in Frage zu stellen. War sie vielleicht doch wieder eingeschlafen? Spielten ihr Gehör und Augen einen Streich? War dieser Moment real?


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[ Wolfsblut ]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt