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Die Fahrt zum neuen Zuhause der Adoptiveltern kommt Alexander viel zu kurz vor, obwohl sie eigentlich ziemlich lange dauert, da sie gefühlt jeden Stau mitgenommen haben, den man nur mitnehmen kann.

Und so wurden aus knapp 4 Stunden Fahrt 6 Stunden.

„Komm, Alex, steig aus. Wir sind da", sagt sein Adoptivvater  und hält ihm die Tür auf.

Also steigt Alex widerwillig aus dem Auto aus und nach einem tiefem seufzer, trottet er dann in das Haus.

Es sieht nett aus, das Haus, mit dem kleinem Garten, in welchem Blumen aller Art blühen und der weißen Holzverkleidung, mit den dunklen Fensterrahmen.

Dennoch mag Alex es nicht. „Die Treppe hoch und dann ganz links, das Zimmer, ist deins, Alex", ruft sein Adoptivvater Björn ihm noch hinterher.

Eine Antwort bekommt er nicht.

Voller Elan, Freude und Ungeduld rennt Alex durch den Flur, welcher in einem warmen Creméfarbenemton gestrichen und liebevoll mit ein paar Bildern in dunklen Fotorahmen geschmückt wurde.

Oder zumindest war dies die Reaktion, die seine Adoptiveltern erwartet hatten.

Der Boden ist aus dunklem Laminat, welches so aussieht, als wäre es aus echtem Holz. Darüber liegt ein Teppich, der wirklich kuschelig weich wirkt.

Doch all diese Details nimmt Alex nicht wahr.

Björn, welcher ihm gefolgt ist, lacht leise, als er sieht, in welchem Tempo Alex durch den Flur läuft. „Wow, du bist ja echt begeistert."

Als Antwort bekommt er ein unverständliches Knurren.

»Wenn es so offensichtlich ist, dass ich nicht hier sein will, warum schleppt ihr mich dann hier her?«, denkt Alex sich verärgert.

Obwohl es erst wenige Tage her ist, dass er sein Zimmer im Heim zerlegt hat, hat er große Lust, dies mit dem neuen Zimmer im neuen "Zuhause" auch zu tun.

Als er jedoch das Zimmer betritt, welches seines sein soll, runzelt er verwirrt die Stirn.

Es ist kaum eingerichtet. Eigentlich sogar ganz und gar nicht eingerichtet.

„Wir dachten, dass es dir vielleicht gefallen würde, wenn du das Zimmer selbst gestalten kannst, so wie es dir gefällt", sagt seine Adoptivmutter Anja und schaut ihn erwartungsvoll an.

„Danke", murmelt Alex. Er kann sich kaum halten vor Freude und würde am liebsten seine Adoptivmutter küssen - nicht.

„In einer halben Stunde gibt es Essen. Komm dann bitte runter", sagt Anja noch, ehe sie den Jungen alleine lässt.

Dieser lässt sich unglücklich auf die Luftmatratze plumsen, welche, abgesehen von einer kleinen Lampe, das einzige ist, was überhaupt schon vorhanden ist.

Alex fröstelt. Mag ja sein, dass er sich das Zimmer möglichst selbst gestalten soll, aber die weißen Wände und der Widerhall von seiner Stimme und seinen Schritten sorgen nicht nicht gerade dafür, dass er sich in diesem Zimmer wohler fühlt.

Der Junge steht auf und geht zu der Reisetasche, welche er mit seinem Betreuer gepackt hat. Ein wenig muss er kramen, dann hält er einen grauen, kuscheligen, weichen und warmen Pullover in der Hand.

Rasch zieht er ihn über und geht dann aus dem Zimmer. Er will sich im Rest des Hauses mal umschauen.

Das Haus ist nett eingerichtet, muss sich Alex eingestehen. Wenn er mit Lilli hier wäre, könnte es ihm sogar gefallen.

Langsam geht er runter in die Küche, welche er von der Treppe aus schon rechts erkennen kann.

Dort summt Anja vor sich hin, während sie zusammen mit Björn kocht. Er schneidet das Gemüse klein, während sie die Kartoffeln schält und dann in den Kochtopf legt.

Dabei hören sie Musik, welche im Radio läuft. Zögernd setzt sich Alex auf einen Stuhl, welcher aus dunklem rotem Holz gemacht ist und eine weiche grüne Sitz- und Rückenfläche hat.

„When the beat drops out and the people gone..." Er lauscht der Musik. Zwar versteht er nicht, was gesungen wird, aber die Melodie des Liedes mag er. Der Sänger, so findet Alex, hat auch eine ganz angenehme Stimme.


Lillis Gesundheitszustand hat sich weder verbessert, noch verschlechtert, seit sie weiß, dass Alex, ihr heiß geliebter Bruder, von einer Familie als Adoptionskind aufgenommen wurde.

Aber sie schweigt. Die ganze Zeit, auch wenn sie etwas gefragt wird.

Auch zur Logopädie geht sie nicht mehr freiwillig, obwohl sie durch den Unfall Probleme damit hat, die Wörter zu finden, die sie braucht.

Ihr ist bewusst, dass der Stuhl "Stuhl" heißt, aber sie kann es manchmal einfach nicht sagen.

Das einzige wo sie noch gerne hingeht, ist ihre Psychologin, welche ihr dabei Helfen soll, den Unfall zu verbreiten, da Lilli häufig unter Flashbacks leidet und immer wieder nachts schreiend aus dem Schlaf erwacht.

Als sie dann nach einigen Wochen zur Nachkontrolle ihrer Wunden wieder bei Debbie auf der Behandlungsliege sitzt, starrt sie schweigend auf ihre Hände.

„Magst du nicht mit mir reden, Lilli?", fragt Debbie sanft und streicht ihr über die, von Lilli aus gesehen, rechte Hand.

Die kleine schüttelt nur den Kopf, während ihr Betreuer Michael seufzt.

„Das geht schon seit drei Wochen so, seit sie erfahren hat, dass Alex, ihr Bruder, in eine Adoptivfamilie aufgenommen wurde, diese aber auf Teufel komm raus nur Alex aufnehmen wollte und es auch durchgesetzt hat."

Nachdenklich lauscht Debbie dem Bericht. Sie kann die kleine Maus gut verstehen.

Natürlich, das permanente Schweigen bringt Lilli Alex nicht zurück, aber es ist ihre Art, den Verlust einer wichtigen Person zu kompensieren.

Plötzlich beginnt Lilli leise zu weinen, was nicht unbemerkt bleibt. Sachte nimmt die Ärztin das kleine Mädchen in den Arm und streicht über ihren Rücken.

Lilli weint nicht lange. Dazu hat sie einfach nicht die Kraft. Doch die Nähe zu einer weiblichen Vertrauensperson tut ihr gut. Langsam lehnt sie sich etwas an Debbie und schließt einen Moment lang die Augen.

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Anm: Ich habe keinerlei Ahnung, wie das mit dem Adoptionssytem in Deutschland aussieht und hab das jetzt einfach nach gut dünken aufgeschrieben. Bitte seht es mir nach, wenn es nicht der Realität entspricht.

Ich komme zu dir zurück!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt