4 - Beerdigung

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Ich stand neben der großen Fichte und beobachtete meinen Bruder, wie er das Loch für Oskar bereitete. Immer wieder reichte ich ihm eine der Wasserflaschen, die an dem Stamm lehnten.

Zu diesem Zeitpunkt vermisste ich Oskar bereits, obwohl er noch nicht begraben war. Er hätte hier liegen müssen und uns zuschauen müssen, stattdessen lag sein toter Körper auf der Terrasse, bereit, für die Beerdigung hergerichtet zu werden.

Mit einem leeren Blick beobachtete ich meinen Bruder, wie er den Spaten erneut in die harte Erde schlug. Er schwitzte unter der heißen Sommersonne und leerte eine Wasserflasche nach der anderen. 

Endlich richtete er sich auf, wischte mit dem Handgelenk den Schweiß von seiner Stirn und sah etwas traurig zu mir. Ich nickte nur und stieß mich von dem Stamm der Fichte ab, an der ich mich angelehnt hatte.

Stumm lief ich den Weg über die Treppen zur Terrasse herab. Er kam mir ungewöhnlich kurz vor, den Blick hielt ich auf den Boden gerichtet. Ich wollte Oskar nicht sehen, wie er in seinem Katzenkorb zusammengerollt lag, die Schwanzspitze zwischen den Pfoten eingeklemmt, die Augen geschlossen.

Trotzdem musste ich früher oder später den Blick heben. "Schau ihm nicht in die Augen", sagte meine Mutter leise. Erst jetzt sah ich, dass seine Augen einen Spalt geöffnet waren.

Meine Mutter reichte mir Gummihandschuhe, damit ich ihn noch einmal streicheln konnte. Aber es war nichts so wie früher. Sein Fell war kalt, nicht mehr so geschmeidig und es fühlte sich durch die Handschuhe steril an. Ich konnte meine Tränen kaum zurückhalten, doch ich wusste, dass er nicht gewollt hätte, dass ich weine. Ich biss mir auf die Lippe und hielt meine Tränen schon fast gewaltvoll zurück. Ich fühlte mich zersplittert, ich hatte meinen treuen, in manchen Zeiten sogar besten Freund verloren. Er hatte mir so viel bedeutet. So viel...

Viel zu schnell musste ich die Handschuhe wieder ausziehen, um das Katzenkörbchen zur Fichte zu tragen.

Wir hatten gerade Oskar in das Loch gelassen, den Blick zum Haus gerichtet, als Mom ein Handtuch nahm und ihn damit zudeckte. Nach einigen Sekunden der Trauer zog sie es über seinen Kopf, bis es ihn gänzlich bedeckte und ich eine Hand Erde von dem Haufen nahm.

Ich konnte nicht verhindern, dass mir eine Träne über die Wange lief, als ich die Erde langsam auf das Handtuch, welches seinen Körper bedeckte, fallen ließ. Mit jedem Brocken Erde begrub ich auch einen Teil meiner Trauer, ein Teil jedoch, das wusste ich damals schon, würde erhalten bleiben. Für immer.

Gerade, als wir das letzte Drittel der Erde auf das Loch schaufelten, kam mir ein Einfall. Ich bat meine Familie, kurz innezuhalten und rannte auf unser Haus zu. Zügig lief ich in mein Zimmer und kramte das Holzkreuz, das ich vor mehreren Jahren bei dem Geburtstag einer Freundin angefertigt hatte, aus der Ecke. Kurz sah ich es an, dann rannte ich damit zurück zur Fichte.

Als meine Familie mich fragte, wo ich gewesen sei, hielt ich ihnen nur stumm das Kreuz hin. Sie nickten und platzierten es an der Spitze des Grabes.

Oskar's Grabstein ist einfach nur schwarz. Es ist eine dicke Schieferplatte, die wir nach der Beerdigung auf sein Grab legten. An vielen Tagen kniete ich einfach nur an dem Ort seiner letzten Ruhe, ich kehrte den Stein von den heruntergefallenen Nadeln ab und brachte ihm neue Blumen.

Doch jedes Mal fühlte ich mich leer, ich wusste, dass ich ihn lange Zeit nicht loslassen könnte. Er hatte sich in meine Seele, mein Herz eingebrannt und schmiegte sich noch immer von der Innenseite dagegen, wenn ich traurig oder einsam war.

Und noch heute halte ich oft auf der Treppe an, um auf sein Grab hinabzublicken.

OskarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt