Mitbewohner

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Vorsichtig und zaghaft wurde meine Zimmertür geöffnet und ich schaute auf, als ich die Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Mein Mitbewohner Leif lugte durch den Spalt und schnell zog ich mir einen Kopfhörer aus den Ohren, weshalb ich wahrscheinlich sein Klopfen überhört hatte.
„Was ist?", wollte ich wissen und legte das Buch zur Seite, in dem ich mich eben verloren hatte. Leif trat langsam ein und fragte mit leiser Stimme: „Kannst du mir kurz helfen, Sumi?"
„Klar, was ist?", schnell pausierte ich die Musik und zog den zweiten Kopfhörer aus den Ohren und drehte das Leselicht nach oben gegen die Decke, damit das Zimmer insgesamt besser erleuchtet wurde. Leif sah unnatürlich blass aus – noch blasser als er sonst immer war.
„Geht es dir gut?", ich stand auf und wollte zu ihm, doch er wich etwas vor mir zurück und schüttelte langsam den Kopf.
„Ich brauche deine Hilfe, Sumi", meinte er zögernd. Ich kannte Leif seit einem dreiviertel Jahr; ich hatte damals einen Mitbewohner oder eine Mitbewohnerin gesucht um die Kosten für die Wohnung zu halbieren. Er war immer sehr still, vor allem abends lange weg, aber wir verstanden uns gut, da ich mich die meiste Zeit in meinem Zimmer verkroch und vor meinem PC oder einem Buch saß und wir nicht viele Möglichkeiten zum Streiten hatten. Er hatte sich immer etwas komisch verhalten, aber eben auf einem akzeptierbaren Level von Komisch, doch das war noch komischer.
„Ich... Ähh", man konnte ihm anmerken, dass es ihm unangenehm war, über das zu reden, was er von mir wollte, doch ich kannte das Gefühl selbst gut genug und drängte ihn nicht.
„Ich hab mir ja vorhin den Fuß umgeknickt und kann deshalb heute Nacht nicht raus", meinte er langsam und verwirrt schaute ich ihn an, nickte aber langsam. Ich hatte ihn fluchen hören, als er umgeknickt war, doch wir hatten beide zu dem Zeitpunkt kein großes Ding daraus gemacht.
„Aber ich... Sumi... Ich brauche...", er schluckte, blickte mich lange an, dann schloss er die Augen, sichtbar leidend.
„Alles klar, Leif?", fragte ich erneut und er schüttelte den Kopf: „Es ist doch nicht so wichtig. Sorry, dass ich dich gestört habe...", er wandte sich zum Gehen.
„Du wirst mich aus einem guten Grund gestört haben, also was ist?", hielt ich ihn auf, „Was brauchst du?"
Er atmete gedrückt aus und drückte die Tür zu: „Kannst du mir versprechen, dass das zwischen uns bleibt?"
„Natürlich. Wem sollte ich es auch erzählen? Mara?", ich wies auf das Buch neben dem Bett am Boden lag. Diese Szene alleine konnte sehr viel über mich und andere Leute aussagen, man konnte meine Freundschaften alleine mit einem Wort beschreiben: fiktional, oder besser gesagt: mit non-existenten Charakteren.
„Ich brauche etwas von dir...", meinte er leise und skeptisch schaute ich ihn an.
„Von... mir?"
„Ich wollte dich niemals danach fragen, aber es geht nicht anders...", meinte er und eine meiner Augenbrauen wanderte nach oben.
„Du bist gerade die einzige Möglichkeit, dass ich da rankomme..." Meine Augenbraue wanderte noch etwas höher.
„Je länger du um den heißen Brei herumredest, desto komischer hört es sich an."
„Ich will nicht, dass unser Zusammenleben darunter leidet, wenn du nicht willst, dann kann ich auch wieder gehen."
„Leif!", rief ich recht laut und er zuckte zusammen, „Sag was du willst, nachdem ich bis eins gezählt habe, sonst geh bitte wieder."
Er nickte zögerlich und ich schloss die Augen, bevor ich langsam von drei herunterzählte. Als ich die „Eins" ausgesprochen hatte, hörte ich nur ein Wort von ihm: „Blut."
„Blut?", wiederholte ich überrascht. So wie er angefangen hatte, hatte er sich angehört, als wollte er mich fragen, ob wir Sex haben könnten oder so, doch mit der Antwort „Blut" hatte ich nicht gerechnet.
Er nickte: „Ich brauche Blut von dir – nur wenn es dir keine Probleme macht, aber du würdest mir sehr helfen. Ich-"
„Blut?", wiederholte ich immer noch überrascht. Inzwischen war die zweite Augenbraue der Ersten gefolgt und wenn ich eine Brille tragen würde, würde ich Leif nun über deren Rahmen einen fragenden Blick zuwerfen, doch ich trug keine.
„Soll ich einfach gehen?", fragte er und hatte etwas von einem verschreckten Reh an sich, doch ich schüttelte den Kopf.
„Du bist ein Vampir?", fragte ich, zwischen jedem Wort eine Pause machend, und er nickte voller Unbehagen: „So könnte man es nennen, denk ich."
„Und du willst mein Blut..." Er nickte erneut.
„Werde ich dann auch zu einem oder wie-"
„Nein, keine Sorge, solange du nicht vorhast mein Blut zu trinken besteht keine Gefahr", er lächelte gezwungen.
Wenn man jemals eine Situation als ungewöhnlich bezeichnen konnte, war es diese. Mein Gehirn hatte noch nicht ganz verarbeitet, dass ich mit einem Vampir zusammenwohnte und mich dieser gerade um mein Blut bat und deshalb starrte ich ihn weiterhin ungläubig an.
„Sumi?", sprach er mich unsicher an.
„Und wie willst du das haben...? Soll ich mir den Arm aufritzen oder-"
„Du wärst bereit mir etwas zu geben?", fragte er hoffnungsvoll und ich nickte langsam, immer noch nicht ganz sicher, ob er mich veräppeln wollte oder ob er es ernst meinte.
„Du musst eigentlich gar nichts machen, außer mich an deinen Hals zu lassen...", er zeigte bei sich auf die Seite seines Halses und ich nickte.
„Aber können wir bitte in mein Zimmer gehen, es ist, denk ich, besser, wenn du dein Zimmer nicht mit so etwas verbindest."
Ich nickte erneut und folgte Leif. Sein Zimmer war mir nicht unbekannt; wir ließen beide immer wieder die Türen offen, doch wir betraten des anderen Zimmers nur selten. Es war sehr ordentlich, was im Kontrast zu Teilen meines Zimmers stand, doch es erfüllte unter keinen Umständen die Vorurteile, die man über das Zimmer eines Vampirs kennen konnte.
„Setzt dich", er zeigte auf sein Bett, das in der Mitte des Raumes nur am Kopfende an der Wand stand und etwas unbehaglich ließ ich mich auf der Bettkante nieder.
Er setzte sich hinter mich und immer noch mit Unsicherheit in der Stimme, fragte er: „Vertraust du mir?"
Ich nickte. Mein Herz klopfte unglaublich laut in meiner Brust und ich versuchte die Angst zu unterdrücken. Die Situation war unbehaglich und seine vorsichtige Berührung verbesserte das nicht. Langsam strich er meine Haare über die rechte Schulter und schob mein T-Shirt etwas nach unten. Ich spürte die Kälte seines Zimmers, sodass es mich fröstelte.
„Es sollte nur kurz wehtun", meinte er und ich nickte erneut, wobei ich meine Hände ineinander verkrampft hatte.
„Entspann dich. Atme tief durch", seine Stimme so nah an meinem Ohr zu hören und sein warmer Atem auf meiner Haut trug nicht gerade dazu bei, dass ich mich beruhigte, doch ich zwang mich gleichmäßig zu atmen und schloss die Augen.
Er legte seine Arme um mich und griff nach meinen Händen, während seine Lippen meinen Hals berührten. Sie waren weich und ich spürte seinen warmen Atem so nah wie nie, als er den Mund öffnete, fast hätte ich gemeint, er wollte mich nur verführen, doch im nächsten Moment zuckte ein stechender Schmerz durch meinen Körper und ließ mich zusammenzucken. Aus meinem Inneren drang für eine Sekunde ein gequältes Quieken, das an ein Meerschweinchen erinnern konnte und ich verkrampfte mich, doch seine Hände zogen meine sanft, doch bestimmend auseinander und er verschränkte unsere Finger miteinander. Seine Hände waren noch kälter als meine, was mich etwas erstaunte, doch dadurch konnte ich mich auf etwas anderes als den Biss an meinem Hals konzentrieren.
Ich spürte wie er seinen Mund etwas anhob, nur um ihn wieder auf die frische Wunde zu senken um das Blut abzuleckte. Für jemanden, der praktisch keine Beziehungen in seinem Leben hatte, war das für mich eine irritierende Erfahrung. Es kam von ihm so viel Zärtlichkeit, doch zu wissen, dass er das nur tat um an mein Blut zu kommen, gab der Situation einen unwirklichen Touch.
Leif hingegen, schien vollkommen aufzugehen und seine Mahlzeit zu genießen. Er liebkoste meinen Hals und strich mit dem Daumen über meine Hände. Er gab sich der Versuchung hin und war unfähig seine Selbstbeherrschung zu bewahren, als er das süße und unglaublich nahrhafte Blut von mir schmeckte, sodass er ein zweites und ein drittes Mal zubiss um an mehr zu kommen. Sein Kopf hatte sich in diesem Moment ausgeschaltet und er ließ sich nur noch von dem Verlangen leiten. Und dieses Verlangen befahl ihm gerade nur eines: „Mehr!"
Ich wehrte mich nicht gegen ihn. Ich wusste nicht, wie viel er brauchte und ich war gefangen in der Zärtlichkeit, die ich sonst nicht bekam. Ich vergaß zeitweise, wo ich war und was Leif von mir wollte, doch die Schmerzen der beiden weiteren Bisse holten mich jedes Mal kurzzeitig in die Wirklichkeit zurück, doch dann wuchs Leifs Zärtlichkeit weiter und ich verlor mich wieder darin.
Die weniger werdende Blutmenge in meinem Körper verursachte bald ein Gefühl von Schwäche, Schwindel und Übelkeit, die ich gut genug kannte, da ich selbst lange Zeit meiner Kindheit an leichtem Blutmangel gelitten hatte und mein Körper sich oft gegen den Schulsport gewehrt hatte. Der Versuch Leif wegzustoßen scheiterte und endlich realisierte ich, dass ich mich in Teufels Klauen begeben hatte, als ich zugestimmt hatte, ihm mein Blut zu geben. Ich wusste nichts über Vampire; er könnte mich vielleicht in einem Zug leer saugen, ohne mit der Wimper zu zucken. Bevor die Angst wieder in mir hochsteigen konnte, brach mein Körper zusammen.

Für mich kam es mir vor, als würde ich nur einen Moment später erwachen, doch mir war klar, dass Stunden hätten vergangen sein können. Ich lag in Leifs Zimmer, bemerkte ich nach einigen Momenten und schales Licht kam von seinem Schreibtisch, an dem Leif saß. Als ich versuchte mich aufzurichten, bemerkte ich meine Schwäche und ein leises Stöhnen drang aus meiner Kehle. Leif drehte sich bei dem Geräusch zu mir um und er hatte nichts mehr von seinem vergangenen Selbst. Weder der unsichere und eingeschüchterte Leif, der als alles in die Gänge getreten hatte, noch der vollkommen von sich losgelöste Leif, der mein Blut trank, bis ich ohnmächtig wurde.
„Geht es dir gut, Sumi?", fragte er und kniete sich neben das Bett. Ich nickte, da ich mich für Worte zu unfähig fühlte und mein Hals unglaublich trocken war.
„Es tut mir unglaublich leid, Sumi. Ich habe die Kontrolle verloren und erst als du zusammengebrochen bist, ist mir klar geworden, was ich gerade tat. Ich hätte niemals so viel von dir trinken dürfen. Es tut mir so leid", er ließ den Kopf hängen und langsam versuchte ich mich erneut aufzurichten. Mein Kreislauf sank wieder zusammen, doch fing sich bevor ich erneut das Bewusstsein verlor, was darin endete, dass ich kurz nichts sah und ein lautes Pfeifen in den Ohren hatte, das nach einigen Momenten wieder verschwand. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich auf seine Entschuldigung erwidern sollte und unschlüssig wanderte eine Hand zu meinem Hals. Leif hat mir einen Verband angelegt und ich bezweifelte, dass dieser nur dafür war, um meine Wunden zu verarzten.
„Warum hast du die Kontrolle verloren?", fragte ich langsam und er schaute überrascht auf.
„Ich hatte in letzter Zeit immer nur unterklassiges Blut, das meiner Blutgruppe auch nicht entspricht; das ich deswegen auch nicht so gut vertrage und naja, deines ist eben sehr gut."
Ich schaute ihn irritiert an. Was wollte man auch schon auf so etwas antworten?
„Ich kann verstehen, wenn du jetzt sauer bist und mich aus der Wohnung werfen willst. Wer will schon mit einem Vampir zusammen leben? Sumi, es tut mir so leid. Ich hätte mich niemals so gehen lassen dürfen, es war-"
„Wie spät ist es?", unterbrach ich seine Entschuldigungstiraden und überrascht schaute er erst mich an und dann auf sein Handy: „Etwa zehn nach elf."
„Dann ist ja die richtige Zeit für mich um ins Bett zu gehen", ich stand auf und erneut sank mein Kreislauf zusammen, weshalb ich mir an den Kopf griff. Leif stand sofort neben mir, als hätte er Angst, dass ich im nächsten Moment wieder das Bewusstsein verliere würde, doch er schien sich nicht zu trauen, mich wirklich zu berühren.
Ich sagte nichts dazu, sondern versuchte ihn so weit wie möglich zu ignorieren. Man konnte nicht sagen, dass ich sauer oder irgendetwas auf ihn war, ich wollte nur wieder Abstand zwischen uns und Zeit zum Nachdenken.
Schweigend ging ich zurück zu meinem Zimmer, wobei Leif mir wie ein Schatten folgte. Erst an meiner Zimmertür stoppte er und bevor ich diese schloss, hörte ich ihn fragen: „Bist du mir böse?"
Ich drehte mich um und antwortete langsam: „Frag mich das morgen noch mal; aber wenn du wieder Blut brauchst sag Bescheid – nur halte dich dann zurück. Gute Nacht."
Dann schloss ich die Tür und ließ mich in mein Bett fallen, während ich hörte, wie Leif auf der anderen Seite gegen das Holz sank und sich nach unten rutschen ließ, bevor ich in einen unruhigen, traumlosen Schlaf driftete.

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